Erlesene Männer, belesene Frauen

Die 62-jährige Autorin und Regisseurin schrieb zuletzt "Liebe und Vampire", im Jahr 2002 erhielt sie den Kulturellen Ehrenpreis Münchens. Die AZ hat Doris Dörrie zum Interview getroffen.
von  Volker Isfort
Tanja Graf (links), Leiterin des Literaturhauses, im Gespräch mit Doris Dörrie, die das "forum:autoren" innerhalb des Literaturfests kuratiert.
Tanja Graf (links), Leiterin des Literaturhauses, im Gespräch mit Doris Dörrie, die das "forum:autoren" innerhalb des Literaturfests kuratiert. © Volker Derlath

München - Rund 80 internationale Autoren werden vom 15. November bis zum 3. Dezember beim Münchner Literaturfest erwartet, darunter die Büchner-Preisträger Marcel Beyer und F.C. Delius, der Pulitzer-Preisträger Colson Whitehead und der Deutsche-Buchpreisträger Frank Witzel, Ken Follett, Péter Nádas und Salman Rushdie, Robert Menasse, Sven Regener und viele mehr.

Die Schriftstellerin und Regisseurin Doris Dörrie hat die Kuratoren-Reihe "forum:autoren" gemeinsam mit dem Literaturhaus entwickelt. Außerdem gibt es natürlich die Bücherschau im Gasteig mit einem Kinder- und Jugendprogramm sowie den Markt der unabhängigen Verlage im Literaturhaus. Auch der Geschwister-Scholl-Preis wird im Rahmen des Literaturfests verliehen.

AZ: Frau Dörrie, Sie haben als Kuratorin der Reihe "forum:autoren" das Motto "Alles Echt. Alles Fiktion" ausgewählt – warum?
DORIS DÖRRIE: Das Thema Lüge und Wahrheit hat schon sehr stark mit der immensen Fiktionalisierung unseres Alltags zu tun. Und der wiederum hat mit der Digitalisierung zugenommen. Wir alle müssen uns in den sozialen Medien neu erfinden, uns ein Narrativ geben, und gleichzeitig befinden wir uns in einer Konsumentenwelt, die Narrative erschafft. Die Politik tut dies ebenso, wie wir gerade bei der Bundestagswahl beobachten konnten. Die AfD hatte ein sehr gut funktionierendes Narrativ, das hat aber nichts mit der Wahrheit zu tun. Das Narrativ von Frau Merkel war: "Alles prima und alles bleibt so, wie es ist." Das ist keine besonders gute Story, auch wenn sie vielleicht vernünftig ist. Wir bevorzugen die Emotion und das Drama, auch wenn das in der Politik eigentlich nichts zu suchen hat. Alles um uns herum wird fiktionalisiert – und die Fiktion ist halt immer auch Lüge.

Mario Vargas Llosa spricht in seinen Essays über Klassiker von der "Wahrheit der Lüge", die sich in der Literatur verbirgt.
Die Sehnsucht nach dem wirklich Wahren schlägt sich aktuell in der Literatur durch die Welle der Erinnerungsbücher nieder. Diese sollen autobiografisch bezeugen, dass alles wahr ist, was dort verhandelt wird. Karl Ove Knausgård ist hier ein herausragendes Beispiel. Meiner Meinung nach birgt diese Sehnsucht nach dem Autobiografischen die Gefahr einer erzählerischen Einschränkung. Aber wenn Herr Knausgård von seinem Windelalltag schreibt, dann gilt das der Kritik als große Literatur, wenn Frauen dies täten, käme dies sehr schnell in den Verdacht des Banalen. Diese Unterscheidung wird gerne immer noch gemacht, darüber lohnt es sich auch zu sprechen.

Sie kennen die Frauendiskussion ja vom Film, es gibt viel zu wenige Regisseurinnen, die zu Festivals eingeladen werden. Haben Sie das Gefühl, in der Literatur ist das anders?
Nein, wenn sie die Programme durchschauen, dann sind die Spitzentitel der Verlage meistens von männlichen Autoren dominiert. Erst dahinter kommen die Frauen. Ich habe mich aber schon bemüht, viele Autorinnen für mein Programm zu gewinnen.

In Ihrer privaten Bibliothek dominieren wahrscheinlich auch die Männer?
Das glaube ich gar nicht. Ich habe sehr früh angefangen, gezielt Autorinnen zu lesen. Das kam wahrscheinlich durch meinen Aufenthalt in Amerika. Ich kannte von hier natürlich Marie-Luise Kaschnitz und Ingeborg Bachmann, habe mich aber dann auch stark mit Ann Beattie, Alice Adams, Alice Munroe, Doris Lessing, Margaret Atwood und vielen anderen Autorinnen auseinandergesetzt. Ich habe in diesen Büchern auch die Schilderung eines Alltags vorgefunden, der bei den männlichen Autoren überhaupt nicht vorkommt.

Es heißt ja inzwischen, dass viel mehr Frauen als Männer lesen.
Männer lesen keine Literatur mehr, maximal Krimis. Das ist eine fatale Entwicklung, denn wenn Männer keine Literatur mehr konsumieren, stellen sie sie irgendwann auch nicht mehr her, und dann kommen sie darin künftig auch nicht mehr mit ihren Ansichten vor. Ich halte das wirklich für ein Problem, das ja schon in jungen Jahren beginnt: Jungens sehen Lesen an sich nicht mehr als coole Tätigkeit an. Sich alleine mit einem Buch hinzusetzen und in eine Romanwelt einzutauchen, ist eine Technik, die man erlernen muss. Wer das nicht frühzeitig tut, wird es später auch nicht mehr tun.

Die große Literatur hat es immer schwerer, Leser zu finden, es ist ähnlich wie auf dem Filmmarkt, wo der Autorenfilm immer stärker zu kämpfen hat.
Die Zahlen sind oft bestürzend, aber man muss auch sehen, dass die Filme heute im Netz weiterleben. Früher waren sie nach der Kinoauswertung tot, heute haben sie ein drittes und viertes Leben. Die Zahlen dafür werden allerdings nicht erfasst. Ich denke, es hat mehr mit dem alten Raum des Kinos zu tun als mit der Wahrnehmung der Filme. Die Leute schauen zu Hause Serien auf dem iPad, statt sich über Parkplatzsuche, schlechte Sitze und miese Projektionen in alten Arthauskinos zu ärgern.

Als veraltet gilt auch die "Wasserglaslesung", aber sie ist immer noch quicklebendig.
Das wundert mich nicht, der Live-Auftritt ist das Entscheidende – wie in der Musik. Dahinter steht auch wieder die Sehnsucht nach dem Wahren und Echten. Und die "Wasserglaslesung" ist schon so retro, das hat wieder was.

Sie haben aber auch andere Darstellungsformen im Programm.
Zunächst bin ich froh, dass mein Programm im Literaturhaus stattfindet und das "forum:autoren" nicht wie in den Jahren zuvor quer über die Stadt verteilt wird. Selbstverständlich habe ich aber auch "meine" Filmhochschule als Veranstaltungsort mit eingebaut. Dort laufen die Filme und die Diskussionen darüber. Ich zeige dort auch alle drei Filme, die ich in Japan gemacht habe: "Erleuchtung garantiert", "Hanami" und "Fukushima", die sich zwischen Fiktion und Dokumentation bewegen. Und wir haben das Foyer im Literaturhaus als Festivalbar. Dort gibt es den ganzen Tag serielle Podcasts zu hören und abends Performances: Musik, Dichtung und seltsames, lustiges Zeug. Dort kann man abends auch auf ein Bier vorbeikommen. Der Sinn dieses Festivals ist, Menschen auf viele verschiedene Arten zu inspirieren.

Sie haben auch Gäste eingeladen, die man nicht auf den ersten Blick bei einem Literaturfest erwartet: Sie moderieren beispielsweise einen Abend mit Olli Dittrich.
Es war mir wichtig, ihn auch ins Literaturhaus zu bringen. Denn was er mit seinen Doku-Parodien macht, ist eine große Form des Erzählens. Es ist wirklich unglaublich, wie er Figuren recherchiert und zu neuem Leben erweckt. Das ist eine große Kunst, die sehr wesentlich mit dem genauen Hinschauen zu tun hat. Und für mich besteht Literatur auch zu einem großen Prozentsatz aus genauem Hinschauen und Zuhören. Eine Facette Ihres Kunstschaffens kommt nur am Rande vor - Ihre Liebe zur Oper. Man kann die Gruppe La Triviata in unserer Festivalbar hören, das ist eine Gruppe von jungen Opernsängern, die auf Zuruf Arien improvisiert.

Inszenieren Sie bald wieder eine Oper?
Im Gespräch darüber bin ich andauernd, aber das ist terminlich schwierig, weil es mir oft die Filmpläne verhageln würde. Im Filmbereich ist die Finanzierung so kompliziert, dass man nicht genau planen kann, wann die Dreharbeiten beginnen können. Die Opernwelt plant hingegen langfristig. Und ich verstehe mich in erster Linie als Autorin und Filmregisseurin, Oper ist eher eine Zugabe.

Mit dieser Zugabe haben Sie aber mächtig Emotionen freigesetzt. Besonders durch ihre mit Science-Fiction-Filmzitaten angereicherte "Rigoletto"-Inszenierung 2005 an der Bayerischen Staatsoper.
Die Premiere war eine bürgerliche Erregung ohnegleichen. Das erlebt man nicht als Filmregisseurin: Wenn man auf der Bühne steht und so vehement gebuht wird, dann ist das wirklich ein Wind, den man körperlich spürt, fast ein Sturm. Das ist atemberaubend.

Ist das nicht auch niederschmetternd?
Ich war eher erstaunt über die Wut, ich wollte ja niemanden verletzen. Zubin Mehta stand neben mir und hat nur gesagt: "Das ist wunderbar, es ist toll, wenn die Leute sich so empören. Das ist ja noch schlimmer als beim ,Siegfried’". Sir Peter hat die Inszenierung geliebt, und nach der Premiere lief es dann wunderbar. Es wurde ein riesiger Publikumserfolg. Es war ja auch das Ziel der Inszenierung, den "Rigoletto" einem jüngeren Publikum schmackhaft zu machen.

Wenn Sie jetzt eine Autobiografie schreiben würden, könnten Sie dann die Wahrheit über sich selbst erzählen?
Nein, das kann niemand. Das beginnt ja schon damit, dass man, wenn man sich an seine Kindheit erinnert, oft gar nicht mehr weiß, ob man gewisse Situationen erlebt oder nur erzählt bekommen hat. So funktioniert die Erinnerung. Und genau darüber wird bei unserem Symposium "Lüge in Erinnerung" mit Fachleuten auch aus der Naturwissenschaft diskutiert.

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