Entäußerung als Motor
Sein 1978 an der Bayerischen Staatsoper uraufgeführte Shakespeare-Vertonung „Lear” ist eine der erfolgreichsten modernen Opern. Auch „Troades”, „Bernarda Albas Haus” und „Das Schloss” waren im Nationaltheater zu sehen. Heute wird der Berliner im Cuvilliéstheater mit dem Ernst von Siemens Musikpreis ausgezeichnet.
AZ: Herr Reimann, welche Zutaten braucht eine gute moderne Oper?
ARIBERT REIMANN: Wenn mir ein Auftrag erteilt wurde, kam gleichzeitig immer auch ein Stoff auf mich zu. Meist sind das Themen, die mich schon lange interessieren oder auf die mich jemand aufmerksam macht.
Wie war das bei „Medea”, die 2010 in Wien herauskam?
Diese Figur des antiken Mythos spukte schon lange in meinem Kopf herum. Aber ich fand alle Versionen unbefriedigend. Da wies mich der Dramaturg und ehemalige Gärtnerplatz-Intendant Klaus Schultz auf Grillparzers Drama hin. Medea ist da mehr als in anderen Fassungen eine Ausgegrenzte, Fremde und Nicht-Gewollte. Am Ende bringt sie das Goldene Vlies zurück. Unsere Welt ist voll von gestohlenen Dingen. Das hat mich interessiert.
Muss der Stoff aktuell sein?
Im höheren Sinn schon. Die Hauptfigur meiner Oper „Melusine” von 1971 kämpft für die Natur. „Troades” ist ein Stück gegen den Krieg und für das Überleben. Hier spielt eine Rolle, dass ich den Zweiten Weltkrieg sehr hautnah erlebt habe. Im „Schloss” hat Kafka unsere durchsichtige Welt vorausgesehen, in der jeder alles von jedem weiß.
Braucht ein Opernstoff nicht vor allem starke Gefühle?
Das steckt sowieso in mir drin. Die Bühne ist ein Ort, sich zu entäußern. Das ist der eigentliche Motor.
Haben Sie beim Komponieren immer an bestimmte Sänger gedacht?
Dietrich Fischer-Dieskau hat mich auf „Lear” gebracht, weil er die Rolle gerne darstellen wollte. Bei „Medea” waren es die Sängerinnen Marlis Petersen und Claudia Barainsky. Sie haben sehr verschiedene Stimmen, und beim Komponieren habe ich mal an die eine und mal an die andere gedacht. Aber: Das sind Dinge, die einem am Anfang in Bewegung setzen können. Später dachte ich nur noch an Medea oder Lear.
Warum haben Sie meist ohne Textdichter gearbeitet?
Ehe ich jemandem umständlich erkläre, was ich will, mache ich es lieber selbst. Aber ich bin Claus H. Henneberg sehr dankbar dafür, wie er Shakespeares „Lear” sehr glücklich zu einem Extrakt verdichtet hat. Am Anfang meiner Karriere habe ich auch mit Günter Grass bei zwei Balletten zusammengearbeitet.
War das schwierig?
Im Gegenteil. Wir wollten immer weiter noch etwas machen, aber es hat sich nie mehr ergeben. Er mag Ballett, aber seine Neigung zur Oper war nie sehr stark.
Warum sind fast alle neuen Opern Auftragswerke?
Weil es sich kaum jemand leisten kann, zwei oder drei Jahre ins Blaue hinein zu arbeiten. Auch Mozart oder Verdi haben nicht für die Schublade geschrieben.
Gilt die Regel noch, dass man für zwei Abendgagen der Netrebko eine neue Oper komponiert bekommt?
Naja, große Sänger haben doch auch ihren Reiz. Für meine erste Oper „Traumspiel” in Kiel habe ich 1965 10000 Mark bekommen, für den „Lear” 40000, wenn ich mich recht erinnere. 10000 gingen an Henneberg. Für drei Jahre Arbeit ist das nicht viel. Wenn eine Oper nachgespielt wird, amortisiert sich der Aufwand etwas. Zum Glück hatte ich immer regelmäßige Einnahmen als Liedbegleiter und später als Hochschullehrer.
Was machen Sie mit den 200000 Euro Siemens-Preisgeld?
Ich behalte sie nicht für mich. Aber genaueres verrate ich erst bei der Preisverleihung.
Was ist ihre Lieblingsoper unter den Klassikern?
Wagners „Tristan”, jederzeit und immer, Bergs „Wozzeck”, Verdis „Otello”, Mozarts „Don Giovanni”. Puccinis „Tosca” finde ich perfekt gemacht und reißt mich bei jedem Hören hin. Aber ich liebe auch seinen „Mantel” wegen den ungewöhnlichen Orchesterklangs.
Die Wiener Uraufführung der „Medea” als DVD bei Arthaus, die Frankfurter Aufführung als CD bei Oehms Classics