Brandbrief der Kulturschaffenden: Einstimmig - es reicht!
München - Die schlechte Nachricht ging am Mittwoch ein wenig neben der guten unter. Markus Söder kündigte unter dem Eindruck anhaltender Kritik zwar eine verbesserte Künstlersoforthilfe an, die "bis zum Ende der Pandemie" ausgezahlt werden solle. Aber Söder sprach in der Regierungserklärung auch von der "dunkelroten Ampel", die den eingeschränkten Theater- und Veranstaltungsbetrieb wieder gänzlich abwürgen würde.
Dagegen wenden sich nun zehn Intendanten der staatlichen und städtischen Bühnen, der Präsident der Theaterakademie, der Geschäftsführer des Gasteig sowie Till Hofmann stellvertretend für die Freie Szene. In einem Offenen Brief an Söder kritisieren sie die Regelung, wonach ab 100 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern in einer Stadt oder einem Landkreis nur noch Kulturveranstaltungen vor fünfzig Menschen stattfinden dürften.
Derzeit gilt eine Obergrenze von 200 Besuchern sowie eine Ausnahmeregelung für 500 Plätze im Rahmen eines Pilotversuchs im Nationaltheater, dem Gasteig und der Nürnberger Meistersingerhalle. Für alle Theater und Konzertsäle ist die drohende Reduktion auf 50 Besucher ein Schlag ins Gesicht und einer in die Kasse, von der auch öffentlich geförderte Häuser mehr abhängen, als landläufig angenommen wird.
Offener Brief: "Bisher keine nachweisliche Infektion!"
Die Intendanten verweisen darin auf "nachweislich greifende Hygienekonzepte für den laufenden Spielbetrieb" in dieser "besonderen Situation". In ihren Häusern bestehe keine Infektionsgefahr, da der Mindestabstand von 1,50 Metern und der Frischluftaustausch im Zuschauerraum gewährleistet sei. "Bisher hat es keine nachweisliche Infektion durch einen Theaterbesuch gegeben", heißt es in dem Offenen Brief. "Darum insistieren wir auch bei einem hohen Inzidenzwert von 100 oder mehr unseren Spielbetrieb mit 200 bzw. 500 Zuschauern aufrecht erhalten zu dürfen. Alles andere käme einem zweiten Lockdown gleich und bedeutet eine Existenzbedrohung für alle Bühnen in Bayern."
Intendanten sind eher rivalisierende Solisten. Wenn Barbara Mundel (Kammerspiele), Nikolaus Bachler (Staatsoper), Andreas Beck (Residenztheater), André Bücker (Augsburg), Jens Daniel Herzog (Nürnberg), Josef E. Köpplinger (Gärtnerplatztheater), Christian Stückl (Volkstheater), Hans-Jürgen Drescher (Theaterakademie), Till Hofmann (Lustspielhaus) und Max Wagner (Gasteig) gemeinsam einen Brief schreiben, ist Feuer am Dach. Und die rigorose Politik der Staatsregierung trifft nicht nur die eigenen Theater, sondern alle Kulturbetriebe in Bayern.
Alle Veranstalter, ob privatwirtschaftlich wie öffentlich, halten die Obergrenze von 200 Besuchern unabhängig von der Größe des Saals seit langem für eine übertriebene Gängelung.Im Nah- oder Luftverkehr sitzt man bekanntlich länger, in der Gastronomie geht es vergleichsweise lässig zu und erste dicht gedrängte Skifahrer wurden in Österreich trotz roter Ampeln auch gesichtet.
In den Theatern und im Gasteig geht es dagegen streng zu: Hier bleiben ganze Reihen zwischen den Besuchern frei. Im Staatstheater Nürnberg weisen Pfeile am Boden in den Foyers dem Publikum penibel den Weg, in welcher Laufrichtung es sich bewegen darf, um Gedränge zu vermeiden. In allen Häusern kann die Raumluft in gut zehn Minuten durch Frischluft ersetzt werden.
Der Frust ist auch deswegen groß, weil die Theater und Konzertsäle seit Frühjahr immer wieder aufwendige Hygienekonzepte entwickelt haben, die anschließend von der Politik wieder vom Tisch gewischt würden. Und so wirklich interessiert sie auch niemand: Laut Recherchen des Bayerischen Rundfunks hat Minister Bernd Sibler seit Beginn der Spielzeit zwar Vorstellungen in Nürnberg und im Residenztheater besucht, andere Vertreter seines Ministeriums wurden bei der Prüfung von Hygienemaßnahmen jedoch nirgendwo gesichtet.
Deutlicher kann man nicht zeigen, dass es sich bei der Gängelung der Theater und Konzertsäle um reine Symbolpolitik handelt. Aber ist die Mahnung freibleibender Plätze wirklich so wirkungsvoll, um die Folgeschäden für das kulturelle Leben zu rechtfertigen? Denn die Sprunghaftigkeit der Politik verunsichert auch das Publikum. Wer kauft sich eine Karte für eine Vorstellung, wenn er nicht sicher sein kann, dass sie wirklich stattfindet? Und wer hat darauf Lust, im Theater strengeren Regeln folgen zu müssen als bei der Anfahrt mit der U-Bahn?
Pilotversuche im Gasteig und im Nationaltheater
Den Offenen Brief der Orchestervorstände des BR-Symphonieorchesters und der Münchner Philharmoniker vom Ende August hat Söder immerhin im Abstand von einem Monat durch einen Ministerialdirigenten beantworten lassen, auch wenn das nie groß öffentlich wurde. Dieser Brief der beiden großen Münchner Orchester trug neben anderen öffentlichen Äußerungen dazu bei, den Pilotversuch im Gasteig und im Nationaltheater mit 500 Besuchern einzuleiten.
Der Pilotversuch kann übrigens als Erfolg gelten. Das befragte Publikum fühlte sich in der Staatsoper sicher, nur ein Zuschauer wurde einige Tage nach einer Vorstellung positiv auf Corona getestet. Weil genug Zeit zwischen seinem Opernbesuch und dem Testergebnis vergangen war, sah das Gesundheitsamt keinen Grund für eine Kontaktverfolgung unter den übrigen Anwesenden.
Zuletzt führten Infektionen im Staatsballett zur Absage von Vorstellungen, ähnliche Fälle gab es auch bei den Orchestern. Die Zuschauer waren davon in keinem Fall betroffen. Warum zieht die Staatsregierung keine Schlüsse aus dem Pilotversuch, wieso legt sie das Ergebnis nicht vor? Es kann doch nicht sein, dass die Operation Pilotversuch für geglückt erklärt wird, und der Patient am Ende aber an Auszehrung mangels Publikum stirbt.