"Einer gegen alle" im Residenztheater: Regisseur Eisenach über ein bahnbrechendes Stück

Einer für alle, alle für einen" - das Motto der drei Musketiere spricht von einer Utopie des Zusammenhalts, die man immer wieder gerne aufruft, gerade in Krisen- und Umbruchszeiten. Dem steht der Titel von Oskar Maria Grafs Roman von 1932 entgegen: In "Einer gegen alle" erzählt Graf von dem einzelgängerischen Soldaten Georg "Girgl" Löffler, der kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs desertiert und mit falschen Pässen und wechselnder Identität durch die Weimarer Republik driftet. Ein merkwürdiger Vagabund, ein Mann ohne Eigenschaften ist er. Als "ein Rätsel" bezeichnet ihn Regisseur Alexander Eisenach, der "Einer gegen alle" jetzt auf die Bühne des Residenztheaters bringt.

Der 1984 in Berlin geborene Regisseur studierte Theaterwissenschaften und Germanistik in Leipzig und Paris. Seit 2014 ist er freier Regisseur. Zwischen 2016 und 2019 war er Hausregisseur am Schauspiel Hannover. Im AZ-Interview spricht er über die Inszenierung von "Einer gegen alle" von Oskar Maria Graf.
AZ: Herr Eisenach, "Einer gegen alle" ist einer der weniger bekannten Romane von Oskar Maria Graf. Wie kamen Sie auf dieses Werk?
ALEXANDER EISENACH: Zunächst mal hat Intendant Andreas Beck mich dazu angeregt, mich mit Oskar Maria Graf zu befassen. Ich kannte Graf nur durch die Fassbinder-Verfilmung von "Bolwieser", habe dann "Wir sind Gefangene", "Das Leben meiner Mutter" und andere Texte von ihm gelesen und bin auch auf "Einer gegen alle" gestoßen. Ich fand interessant, wie Graf diese Nachkriegszeit behandelt hat: die verpasste Revolution; die Brutalität, die in die Friedenszeit einsickerte; die Traumata, die sowohl die einzelnen Menschen, als auch die gesamte Gesellschaft nicht los ließen.
Deutschland nach dem ersten Weltkrieg
Der Krieg war zu Ende und letztlich doch nicht zu Ende.
Ja. Man geht ja von diesen Zyklen von Krieg und Frieden aus, aber im Prinzip ziehen sich bestimmte Entwicklungen kontinuierlich durch die Geschichte. Mir war vor Lesen des Buchs nicht so klar, wie zerrüttet Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg war: Es gab mit der Weimarer Republik den Versuch, eine Demokratie zu installieren, aber es wurde der Fehler gemacht, dass auch die alten Kräfte aktiviert wurden. Zum Beispiel wurden die alten Offiziere in den Freikorps eingesetzt, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Diese linke Revolution wurde sehr bald wieder niedergeschlagen, was die Traumatisierung der heimkehrenden Soldaten im Grunde verdoppelte: Auf die Gewalt, die sie an der Front erlebt hatten, folgten die gewaltsamen Auseinandersetzungen in der Weimarer Republik.
Der Protagonist des Romans, Georg Löffler, schlägt sich weder auf die Seite der linken noch der reaktionären Kräfte, übt aber auf seiner Reise durch Bayern selbst immer wieder Gewalt aus.
Ja, das finde ich auch interessant an dieser Figur: Dass da jemand ist, der keinerlei Herrschaft über sich mehr erdulden will. Er spürt, dass die ausbeuterischen Strukturen des Krieges im Prinzip fortgesetzt werden: Die Regierung nutzt die Arbeiter- und Soldatenräte dazu, um wieder Ordnung herzustellen, nur um diese Revolutionäre dann wieder an den Rand zu stellen und eine andere, rechte Ordnung zu installieren. Löffler versucht sich dem zu entziehen. Ich glaube, dass er auch auf eine gewisse Art ein Wiedergänger von Graf ist: Der inszenierte sich im einen Moment als Volksschriftsteller in Lederhose, im nächsten Moment begriff er sich selbst jedoch als Anarchisten.
Eisenach: "Oskar Marias Grafs Roman ist bahnbrechend"
Wovon rührte dieses Wechselspiel?
In "Wir sind Gefangene" wird ganz deutlich, dass Graf aus einem extremen gewalttätigen Haushalt kam. Das ist dann auch ein Thema bei ihm: in was für einer engen Beziehung die Gewalt im Kleinen mit der Gewalt im Großen steht. Im Roman versucht Georg Löffler, sich allen Autoritäten und gesellschaftlichen Zuschreibungen zu entziehen, was ihn stark auf sich selbst zurückwirft. Zu Beginn will er seine Identität immer wieder verschleiern. Am Ende versucht er gar nicht mehr, sich in eine stabilisierende Struktur zu begeben, sondern möchte völlig verschwinden, will sich selbst auslöschen.
Solche Figuren kennt man eigentlich eher aus der Postmoderne.
Der Roman ist insgesamt bahnbrechend, auch in seiner Sprache. Die Kapiteleinführungen sind oft recht sperrig und führen eher hölzern in den Zeitkontext ein. Dann kehrt Graf immer wieder zu Löffler zurück, den er vor allem von außen beschreibt. Es gibt praktisch keine Introspektion, man ist als Leser meistens in der Beobachterrolle. Eine direkte Auseinandersetzung mit der Psyche gibt es nicht, aber Graf schafft ein umfassendes Psychogramm der Zeit. Er zeigt, wie Gewalterfahrungen sich in der Gesellschaft fortsetzten, vom Freikorps bis zu den Nationalsozialisten. Dabei beschreibt er etwas, was in der Öffentlichkeit eigentlich erst nach dem Vietnamkrieg zum Thema wurde, Phänomene etwa, die später als "Posttraumatisches Stress-Syndrom" bezeichnet wurden.
"Einer gegen alle" Protagonist ist skrupelloser Sympathieträger
Taugt Löffler zur Sympathiefigur?
Ich denke schon, weil er komplex ist. Solche Figuren kennen wir heute aus den großen Serienerzählungen, zum Beispiel Tony Soprano aus den "Sopranos" oder Walter White aus "Breaking Bad", die im Grunde Sympathieträger sind, aber skrupellos und zu Mördern werden können, wenn es um ihren Selbsterhalt und ihr ökonomisches Weiterkommen geht. Wir sind es mittlerweile gewöhnt, dass Protagonisten auch so handeln können, weil wir uns selbst nicht mehr so stark an moralischen Werturteilen orientieren oder diese in Frage stellen. Löffler ist auch nicht bösartig, sondern er hat einfach seinen moralischen Kompass verloren. Er kann das gar nicht mehr trennen: Im Krieg hat er als Soldat für die Regierung getötet. Also wieso soll er jetzt nicht weiter morden, um zu überleben?
Man kann sich das Buch mit seinen Ortswechseln als Roadmovie vorstellen. Aber auf der Bühne?
Wir haben versucht, dafür szenische Lösungen zu finden. Es gibt zwar einen Bühnenraum, aber es gibt zum Beispiel auch Videobereiche, durch die andere Örtlichkeiten entstehen können. Dieses Reisemotiv ist auch ein guter Erzählmotor, wobei Löffler ja im Grunde nicht vom Fleck kommt. Er macht ständig Kreisbewegungen und landet am Ende immer wieder bei sich selbst. Dass erzählt auch schon viel: Man muss sich der Welt stellen und die Konflikte ausagieren, die in ihr vorkommen, sonst bleibt man stets da, wo man ist. Letztlich muss man sich immer zu der aktuellen Situation verhalten.
Corona beeinflusst indirekt das Stück im Residenztheater
Inwiefern spielt die derzeitige Situation der Pandemie eine Rolle in Ihrer Inszenierung?
Ich habe davon abgesehen, Corona in dem Stück direkt zu thematisieren. Aber die Spielerinnen und Spieler tragen immer wieder Masken, weil diese nun mal auch jetzt zu unserem Alltag gehören. Mich irritiert das immer sehr, wenn ich mir Filme anschaue und die Leute tragen keine. Wir hätten uns das zwar vor einem Dreivierteljahr nicht vorstellen können, aber jetzt ist das einfach zur Gewohnheit geworden. Ich finde es gut, wenn das Theater die unmittelbare Lebensrealität aufgreift und spiegelt.
Wir sind es heute auch gewohnt, von fragmentierten Identitäten zu sprechen. Sie haben Löffler mit drei Schauspielern besetzt. Spielen Sie jeweils besondere Facetten dieser Figur?
Ja. Auch wenn man vorsichtig sein muss, diese Darstellung der Facetten nicht zu dogmatisch zu begreifen. Im Prinzip arbeiten sie sich alle am gleichen Problem ab. Zudem versuchen wir noch andere Schlaglichter zu setzen. Zum Beispiel werfen wir einen starken Blick auf das Freikorps und den sich herausbildenden Faschismus in dieser Zeit. Und es gibt eine Graf-Figur, die im Rückblick auf ihre Autobiografie den eigenen Rückzug aus der Gesellschaft zu thematisieren und zu verstehen versucht.
Männliche Welt der Zerstörung und Traumatisierung
Mit Myriam Schröder steht auch eine Frau auf der Bühne. Spielt Sie die Prostituierte Elly, mit der Löffler für einige Zeit eine Beziehung eingeht?
Ja, wobei das nicht von Anfang an der Plan war; wir hatten Elly zunächst auch mit einem Mann besetzt. Myriam Schröder übernimmt aber auch noch andere Positionen: Während im Roman von einer männlichen Welt der Zerstörung und Traumatisierung die Rede ist, öffnet sie am Ende ein Fenster zu einer zivilgesellschaftlichen Perspektive.
Letztlich sind es immer die Frauen, die die Fenster zu besseren Perspektiven öffnen.
Ja. Weil die Männer in der Regel die Scheiße bauen.
Die Premiere ist ausverkauft. Für die beiden Vorstellungen am Sonntag um 16 und 20 Uhr gibt es noch Restkarten.