Einen Chianti auf Kafkas Fehler!
Zwölf Jahre Gegenwart, als Konzentrat verdichtet: Helmut Krausser hat Tagebücher und Geschimpfe aus den Jahren rund um die Jahrtausendwende in einem anregenden Band zusammengefasst
"Ich bin ungerecht, jähzornig, eitel, unduldsam, selbstbezogen, arrogant, nachtragend, vorlaut, sicherheitsbedürftig, besserwisserisch, zu wenig hilfsbereit, intolerant, leichtsinnig und leicht verletzbar“, schreibt Helmut Krausser über sich selbst. Mit ihm zusammenzuleben mag anstrengend sein. Wir Leser aber dürfen uns freuen: Solche Eigenschaften machen Tagebücher erst aufregend.
Krausser hat Aufzeichnungen aus den 12 Jahren zwischen 1992 und 2004 zu einer recht scharfen Essenz verdichtet. Zu ihren Bestandteilen zählen Reiseberichte, Gedankensplitter und Fundsachen wie der Geschichte eines Mannes, der mit einer Salatgurke erstickt wurde, aber vor seinem Tod noch zweimal abbeißen konnte.
Nach seinen besserwisserischem Versuch, den ersten Satz von Kafkas „Prozess“ umzuschreiben, hat sich Krausser zu Recht einen Chianti verdient. Wehe aber, ein Lektor treibt ähnliches mit seinen Texten! Da wird er fuchsteufelswild. Andererseits wurde Krausser durch das Jahr wohnungsloser Herumtreiberei in den Achtzigern soweit geerdet, dass ihn das innerliteraturbetriebliche Hirnsausen nicht wirklich anficht. Er ist ein Genießer, den das Lebensmittelangebot französischer Supermärkte begeistert, der aber immer wieder in Melancholie verfällt: Scherzhafte Gedanken über den Selbstmord sind der rote Faden seiner Aufzeichnungen.
Viele Schalen voller Zorn
Krausser ist ein großer Hasser von Rucksäcken, Müttern und Kritikern. Er träumt davon, Christo und Jeanne-Claude zu erschießen. Einmal ist er kurz davor, eine scheußliche Tacitus-Übersetzung an die Wand zu werfen, ehe er sich gerade noch rechtzeitig erinnert, in einer Münchner S-Bahn zu sitzen. Die bitterste Schale seines Zorns ergießt sich auf die Notebookfirma Dell, deren Service-Wichte Kraussers Beschimpfungen redlich verdient haben.
Schauplatz von Kraussers Tagebüchern ist oft der Münchner Westen. Die Zeitung, in der diese Rezension erscheint, kaufte er auch des öfteren. Aber sie kommt ganz ordentlich weg. Erstaunlich ist Kraussers weiter Horizont zwischen Literatur, Schach, Pop und klassischer Musik. Die Tagebücher enthalten eine glänzende Miniatur zu Bruckners Fünfter als musalischer Teestunde. Auch als Kenner antiker Münzen erweist sich Krausser.
Ganz so schlimm, wie er sich schildert, kann er übrigens auch wieder nicht sein. Einmal wird er von einem Freund während einer Party ernsthaft auf dem Balkon zurechtgewiesen, weil er dessen Frau angemacht haben soll. Ansonsten ist er eine treue Seele. Und seine Frau Beatrice hält ihn offenbar dauerhaft aus.
Robert Braunmüller
Helmut Krausser: „Substanz“ (DuMont, 462 S., 24.95 Euro)
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