Eine zweitrangige Oper, erstklassig gerettet
Wenn die Flucht vor der Wirklichkeit zum Wahn wird: Regisseur Dmitri Tcherniakov verwandelte Poulencs „Dialoge der Karmeliterinnen“ an der Staatsoper in ein aufregendes Psychodrama.
Waco, Texas, im Jahr 1993: Fast zwei Monate belagerte die amerikanische Bundespolizei das Haus einer religiösen Gruppierung, die sich Davidianer nannten. Sie meinten, in einer Endzeit vor dem Jüngsten Gericht zu leben, steckten ihr Haus in Brand und töteten sich selbst. Die Siedlung nannte sich Mount Carmel.
Dmitri Tcherniakov scheint bei der Vorbereitung zu den „Dialogen der Karmeliterinnen“ auf diese Geschichte gestoßen zu sein. Die Gemeinsamkeiten sind frappierend: Die von Ängsten gepeinigte Blanche flieht in die Stille des Klosters. Aber der Lärm der Welt holt sie ein, denn die Französische Revolution beschließt das Ende der Orden. Die Nonnen beharren auf ihrem Gelübde und entschließen sich zum Martyrium unter dem Fallbeil.
Neue Wendung
Francis Poulencs Oper von 1957 ist katholisches Kunstgewerbe. Tcherniakov gab ihrem Schluss eine bestürzend humane Wendung: Blanche zerschlägt die Tür des Hauses, in dem ihre Mitschwestern den Gashahn aufgedreht haben, zerrt die meisten ins rettende Freie, ehe sie in einer Explosion umkommt. So etwas bleibt auf der Bühne heikel, aber es gelang besser als die läppischen Wagner-Detonationen im „Lohengrin“ und dem „Fliegenden Holländer“.
Den Weg zu diesem Finale erzählen der überragende Frauenchor der Staatsoper und und ein besser nicht denkbares Damen-Ensemble ungemein eindringlich. Auch kleinsten Nebenfiguren gönnt die Regie ein Eigenleben und spart nicht mit rührenden Details: Direkt vor dem Massenselbstmord näht eine Frau ihrer Mitschwester noch den abgerissenen Knopf an.
In dieser Inszenierung gibt es weder Täter noch Opfer, nur Menschen: Die Polizisten vollstrecken den Räumungsbefehl mit widerwilliger Bürokratenpflicht. Die Solidarität der Karmeliterinnen wirkt auf Blanche ebenso anziehend wie ihr heimeliges Häuschen auf der riesigen leeren Bühne. Aber das Innenleben der Gemeinschaft ist zwielichtig. Die eiskalte Mère Marie wechselt ungerührt die Bettwäsche, während die alte Oberin mit Glaubenszweifeln als Pflegefall einen hässlichen Tod stirbt.
Marie wird zwar nicht zur Nachfolgerin gewählt, bleibt aber die heimliche Herrscherin im Karmel. Susanne Resmark spielt diese Fanatikerin mit einem bemerkenswerten Mut zur Hässlichkeit, wenn sie etwa den Polizisten mit der halbnackten Macht ihres Fleisches bedrängt und das Gelübde zum Martyrium manipuliert. Zuletzt, so die Inszenierung, schickt sie die Frauen sogar absichtlich in den Tod, indem sie ihre Namen an die Polizei weitergibt.
Packendes Musiktheater
Auch alle anderen Sängerinnen verschmelzen bewundernswert mit ihren Rollen. Gespielt wird intensiv wie im Schauspiel, aber auch die kontrollierte Klarkeit des französischen Gesangsstils treffen alle gut. Die manchmal etwas forcierten Töne von Susan Grittons Blanche können als Ausdruck verschreckter Weltangst durchgehen, die sie in sehr bewegender Weise verkörpert.
Kent Nagano, der Spezialist fürs Interessante mit Schwächen bei der Tradition, war bei dieser Musik in seinem Element. Obwohl die Partitur knapp fünfzig Jahre alt ist, braucht keiner den Besuch zu fürchten, sofern er Debussy aushält. Der leicht unterkühlte, nichts über Gebühr dramatisierende Ansatz des Dirigenten steigerte die Emotionalität der Szene. Ein paar Ecken und Kanten im Klang des Staatsorchesters wird das Repertoire gewiss abschleifen.
Zu lange Blackouts zwischen den Szenen stören die Konzentration der Zuschauer. Die erstklassige Rettung einer zweitrangigen Oper war ein Riesenerfolg. Die gegen den Regisseur gerichteten Buhs konnten sich nicht durchsetzen.
Robert Braunmüller
Wieder am 1., 8., 14., 17. und 23. April. Karten: 2185 1920
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