Eine Woche Spielart
Die Streicher schwellen auf und ab, eine hohe Linie wechselt sich dabei mit einer tiefen Linie ab, unendlich könnte dieser atmosphärisch-vibrierende Loop gehen. Von den Wechselfällen des Lebens handelt "The Making of Pinocchio" und wohl auch das gesamte Spielart-Festival, in dessen Rahmen die Performance aus Glasgow in der Muffathalle nun zweimal aufgeführt wurde. Klar, eine Holzpuppe möchte in Carlo Collodis Märchen ein "echter Junge" werden, und Ivor MacAskill wollte, geboren im Körper einer Frau, ein Mann werden, was ihm durch Geschlechtsangleichung zunehmend gelang.
Gemeinsam mit seiner Lebenspartnerin Rosana Cade dreht Ivor vor den Augen des Publikums seinen ganz eigenen Pinocchio-Film, man sieht die Fiktion und wie sie produziert wird zugleich, nimmt so zusehend teil daran, wie das Live-Gespielte sich trickreich ins Filmische transformiert. Wunderbare Metamorphosen sind das, ungeheuer gewitzt und mit der Souveränität eines Duos serviert, das diesen Abend bereits häufiger gespielt hat. Aus einem lesbischen wurde ein heterosexuelles Paar, stellen sie mit humorigem Tonfall fest. In Worten gehen solche Übergänge ganz schnell, lesbisch-heterosexuell, hoch - tief… Seine Stimme lässt Ivor MacAskill im Nu zwischen verschiedenen Registern changieren.
Zwischendurch wird Pinocchio in einen Esel verwandelt, die beiden Performenden geben sich mit einem "i-a" der Eselei hin und kennen keine Scham, wenn sie Holzstäbe magnetisch aneinanderkleben, also die Nase der lügenden Marionette anschaulich wachsen lassen, um diese in diverse Holz-Öffnungen hineinzustecken.
Identität funktioniert ja auch nach dem Baukastenprinzip, jede und jeder sollte das Recht haben, sich sein eigenes Selbst zusammenzubasteln. Am Ende fantasieren sie sich, im Film liegend aneinandergeschmiegt, zusammen, was sie alles sein könnten. In der Imagination geht alles, und in der Realität sollte alles möglich sein. Der Live-Moment erweist sich als aufgenommen, sie blicken auf die Leinwand, schauen sich selbst beim Träumen zu, bevor sie die Bühne verlassen.
"The Making of Pinocchio" ist sicherlich ein Highlight des biennal stattfindenden Festivals, das sich in diesem coronabefreiten Jahr wieder in einer Fülle zeigt, dass einem der Kopf vor Besuchsmöglichkeiten schwirrt. Spielart war und ist eine Wundertüte des internationalen Performanceschaffens, gefüllt mit vielem, was in den letzten paar Jahren weltweit auf kleinen und großen Bühnen passiert ist, sowie mit Uraufführungen und neuen Projekten, die teilweise noch im Werden sind. "Nothing to Declare" nennt sich ein Programm, das am letzten Festivalwochenende, vom 2. bis 4. November, stattfinden wird. Das Kreativquartier in der Dachauer Straße wird hierbei zum "Testgelände" für lokale wie internationale Künstlerinnen und Künstler, die den Stand ihrer jeweiligen Recherchen präsentieren. Das Publikum ist zum Umherschweifen, Zuschauen und gar zum Mitmachen eingeladen - Thalia Schoeller hat einen Spieleabend mit Performanceprofis im Import Export (2.11., ab 19.30 Uhr, Eintritt frei) organisiert.
Zuvor kann man sich auf Performance/Tanz-Trüffelsuche begeben, wobei Festivalleiterin Sophie Becker und ihr co-kuratorisches Team bislang ein sicheres Händchen bei der Auswahl bewiesen. Selbst wenn Julian Warner und Veronika Maurer zu Beginn allzu plakativ in der Muffathalle nette, arme Mieter ("Kleine Leute") gegen Vermieter und weitere Kapitalismusfieslinge im Wrestling-Ring antreten ließen, so war der bewusst schwarz-weiß-malerische "Kampf um die Stadt" für viele im Publikum eine willkommene Gaudi. Therapeutisch wertvoll konnten sich da manche ihre Aggressionen abreagieren; angesichts des herzlosen, von Profitdenken bestimmten Mietmarkts ist manches Buh wohl angebracht.
Glücklich konnten sich auch jene schätzen, die im sanierungsstillen Gasteig, derzeit "Fat Cat" genannt, der von Ming Wong inszenierten "Rhapsody in Yellow" beiwohnten. Archiv- und Tonaufnahmen, groß auf einer Leinwand im Carl-Orff-Saal projiziert, geben unter anderem einen Eindruck von der Ping-Pong-Diplomatie, die Anfang der Siebziger die USA und China näherbrachte. An zwei gegenüberliegenden Flügeln lassen die formidablen Pianisten Ben Kim und Mark Taratushkin in dieser Lecture-Performance ebenfalls die Vergangenheit Revue passieren, um im Hier und Jetzt ein gemeinsames Konzert zu spielen, bei dem George Gershwins "Rhapsody in Blue" und das während der chinesischen Kulturrevolution entstandene "Yellow River Piano Concerto" kurios ineinanderfließen.
Im Ping-Pong der Klänge werden gleich mehrere Brücken, zwischen Zeiten und Kulturen, geschlagen. "When Memories Meet" heißt das Spielart-Sonderformat, das Sophie Becker gemeinsam mit Betty Yi-Chun Chen kuratiert hat und in dem der "Kalte Krieg", insbesondere seine Auswirkungen auf den ost-/südostasiatischen Raum beleuchtet werden. Ein Handschlag, zwischen Ben Kim und Mark Taratushkin besiegelt einen offenen Austausch, den man sich in der Realität wünschen würde.
Das Spielart-Programm findet sich unter www.spielart.org
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