Eine herbe Dosis Realismus
Ob das Bayerische Staatsorchester in diesem Jahr wirklich sagenhafte 500 Jahre alt wird, ist Auslegungssache. Tatsächlich erhielt Ludwig Senfl 1523 in München die Stellung eines Hofkomponisten und baute als solcher die Kapelle auf, die Jahrzehnte später von Orlando di Lasso zu europaweitem Ruhm geführt wurde. Doch es ist unwahrscheinlich, dass vor Senfl keine Hofkapelle bestanden hat. Somit wäre die Institution eigentlich noch älter; oder man setzt ihren Geburtstag später an, zum Beispiel parallel mit der Gründung des heutigen Freistaats.
Wie dem auch sei: Zum heutigen Tag präsentiert sich das Bayerische Staatsorchester auf einem spektakulären Niveau, um das die Welt München beneiden kann. Originellerweise demonstriert das dieses Jubiläumskonzert, in dem es den Klangkörper sozusagen auseinandernimmt und anhand zweier später Werke von Richard Strauss schichtweise voneinander isoliert vorstellt.
In der Sonatine Nr. 1 "Aus der Werkstatt eines Invaliden" fügt Vladimir Jurowski 16 Solisten zu einem Organismus zusammengefügt, in dem jede Stimme aufmerksam auf die andere hört und Phrasen, die von mehreren gespielt werden, mit einem einzigen Atem beginnen und enden.
Gleichzeitig feiern alle Musikerinnen und Musiker auf der Bühne des Nationaltheaters lustvollst ihre Virtuosität, etwa das knackige Sprudeln des Bassetthorns oder das feine Singen der Hörner. Das ist reines Spiel, das nichts sein will als bloße Musik, Mozarts Geist aus Strauss´ Händen: schlichtweg hinreißend und tief beglückend.
Leicht wäre es gewesen, dieses Programm nach der Dramaturgie "Durch die Nacht zum Licht" anzulegen. Dann wäre die späte Bläsersonatine auf die frühen vier Gesänge "Mädchenblumen" gefolgt, die Eberhard Kloke kammermusikalisch instrumentiert hat, und die von Marlis Petersen folgerichtig mehr mit der Intimität von Klavierliedern als sopranistisch ausladend gesungen werden. Und die "Metamorphosen", die Richard Strauss in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs mit der Tagebuchnotiz "Trauer um München" begann, hätten als zu bewältigende Situation am Anfang gestanden.
Hier aber setzt diese Studie für 23 Solostreicher den Schlusspunkt. Jurowski zieht den Streicherkörper in einen dunkel-leidenschaftlichen Sog, entwickelt die bis zum Kollaps führenden Steigerungen konstruktiv zwingend, die exzellenten Solisten artikulieren ihre Klagen mit einer so desillusionierten Herbe, dass am Ende, statt dass Jubel ausbricht, der Trauermarsch der "Eroica" von Beethoven verlöscht: In diesen Zeiten kann man eine solche Dosis Realismus auch einem Festspielpublikum zumuten.