Ein Phantom tritt ab: Jerome D. Salinger ist tot
Seit 45 Jahren veröffentlichte Jerome David Salinger, Autor des Welterfolges „Der Fänger im Roggen“, keinen Text mehr. Nun starb er im Alter von 91 Jahren in seinem Haus in New Hampshire
New York Ein Roman und 35 Geschichten in 25 Jahren – mehr hat der rätselhafte Jerome David nicht veröffentlicht. Und doch wird der Name des vor 45 Jahren verstummten und nahezu unsichtbaren US-Autors, der am 1. Januar in seiner Waldhausfestung in Cornish, New Hampshire, seinen 91. Geburtstag beging, auf der ganzen Welt voller Bewunderung ausgesprochen. Vor allem von Jugendlichen – und Künstlern.
Das hängt mit dem Zauber zusammen, den sein 1951 erschienener, in drei Dutzend Sprachen übersetzter Roman „The Catcher in the Rye" und dessen Erzähler bis heute verbreiten: Drei Tage irrt Holden Caulfield durchs vorweihnachtliche Manhattan und verzweifelt an der Lügenwelt der Erwachsenen – aufgeschrieben in einer Sprache, „die mich ganz fertig macht, wenn ihr wisst, was ich meine".
Salinger hatte viele prominente Verehrer
Der französische Schriftsteller Philippe Djian gestand: „Ich habe noch mehrere Tage gezittert, nachdem ich ,Der Fänger im Roggen' geschlossen hatte", und Literaturnobelpreisträger Jean-Marie Gustave Le Clezio nannte Salinger eine seiner wichtigsten Inspirationen, weil „es ihm gelungen ist, uns in die Haut eines 16-jährigen Jungen schlüpfen zu lassen". Auf der Liste prominenter Verehrer finden sich auch Ernest Hemingway, Hermann Hesse, Madonna, Bill Gates, Ethan Hawke, Ulrich Plenzdorf und Axl Rose von Guns N' Roses.
Neben der unsterblichen Figur Holden Caulfield, die seinem Schöpfer selbst ohne Verfilmung üppige Tantiemen zuführt und die ungezählte Kopierversuche nach sich zog, ist Salingers zweite grosse Schöpfung die exzentrische jüdisch-irische Glass-Familie mit den Eltern Les und Bessie sowie den Kindern Seymour, Buddy, Boo Boo, Walt, Walker, Zooey und Nesthäkchen Franny.
Danach kam vor allem beharrliches Schweigen
Buddy Glass, der schon in „Hebt den Dachbalken hoch, Zimmerleute" (1959) auftrat, hat in Salingers schmalem Werk das Schlusswort übernommen: Er trägt den ellenlangen, auf „Hapworth 16, 1924" datierten Brief vor, den sein Bruder Seymour im Ferienlager verfasst hat – erschienen am 19. Juni 1965 in Salingers Hausblatt „The New Yorker".
Was danach kam? Haufenweise Gerüchte, ein paar Paparazzi-Fotos - und beharrliches Schweigen. Längst hatte der Meister seine literarischen Wegbegleiter überlebt: Dorothy Olding von der Agentur Harold Ober, die immer eine schützende Hand über den öffentlichkeitsscheuen Mann gehalten hatte, die in Zürich lebende Agentin Ruth Liepman, die Salinger in Europa vertrat; seine Mentoren beim „New Yorker“, Lektor William Maxwell und Chefredakteur William Shawn. Vor wenigen Jahren starb mit 94 auch der Verleger Robert Giroux, der 1950 per Handschlag den Roman des aufstrebenden Jungautors für den Verlag Harcourt, Brace und Company angenommen hatte, von seinem Chef aber einen Vogel gezeigt bekam, woraufhin Giroux zu Farrar, Straus wechselte – und Salingers Roman zu Litte, Brown in Boston.
Schrieb Salinger die ganze Zeit weiter?
Privat war es einsam um Salinger geworden, der nach zwei gescheiterten Ehen mit der 40 Jahre jüngeren Colleen M. O'Neill zusammenlebte. Mit seiner Tochter Margaret Ann hatte er sich verkracht, nachdem die 2001 in „Dream Catcher" Intimes über ihren Vater ausgeplaudert hatte. Da blieb nur noch der treue Sohn, Schauspieler Matthew Robert. Am Mittwoch starb Salinger in seinem Haus im Alter von 91 Jahren „eines natürlichen Todes“, wie sein Sohn mitteilte.
Nun könnte das letzte Geheimnis gelüftet werden. Schrieb Salinger, wie er einmal in einem der seltenen Interviews sagte, die ganze Zeit weiter? Dann könnte die posthume zweite Karriere des großen Autors beginnen.
Reinhard Helling
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