Ein Ort für heftige Gefühle
Lieber scheitern als auf Nummer sicher gehen: Gedanken zum Regietheater in der Oper nach der missglückten Premiere von Mozarts „Don Giovanni“ im Nationaltheater
Vor fast dreißig Jahren schon spielte die Geschichte in der Bronx. Donna Anna setzte sich dort auf Geheiß des Regisseurs Peter Sellars den Goldenen Schuss. Die Salzburger Festspiele verlegten „Don Giovanni“ in einen Fichtenwald. In München ist der Schauplatz nun ein Containerbahnhof. Nur im barocken Sevilla, wo er eigentlich hingehört, spielt „Don Giovanni“ so gut wie nie.
Schon in der PremierenPause rumorte daher die gute alte Regietheaterdebatte. Danach würzte sie das Abendessen in den Restaurants rund ums Nationaltheater. Die auch schon im Sommer vom Schriftsteller Daniel Kehlmann aufgeworfene Streitfrage lautet: Geht die Oper nicht bald an den Schauspielregisseuren zugrunde, die einander mit immer neuen Extremen zu überbieten versuchen? Warum ist es ein Tabu, den aristokratischen Anarchisten Don Giovanni im Kostüm seiner Zeit auftreten zu lassen?
Wie im Reclamheft kann sehr fad sein
Nur: Es gibt kein Berufsverbot für buchstabentreue Regisseure. An der Berliner Staatsoper erschien vor einer Woche Verdis „Simon Boccanegra“ im kunstgewerblichen Brokat. Der Regisseur wurde genauso ausgebuht wie Stefan Kimmig. Auch hier fühlte sich das Publikum um die Geschichte betrogen. Ein dicker italienischer Tenor, der nicht weiß, wohin mit den Armen, ist viel schlimmer als die Bierdosen des von Staatsopern-Intendant Nikolaus Bachlers gewollten Regietheaters.
Lebendig wird das an sich tote Papier der Partituren erst dann, wenn es von Menschen auf die Bühne gebracht wird. Gespielt wird für den heutigen Zuschauer, und eine Versetzung in die Gegenwart kann hilfreich sein, die Aktualität einer Geschichte kenntlich zu machen. Nur hat Kimmigs Inszenierung leider über das Hier und Heute nicht viel mehr zu sagen als den Fernsehalltag einer Kochshow und des Kitzbüheler Après-Ski. Darin liegt das Problem, nicht in der Aktualisierung an sich.
Kimmig taugt nicht zum Aufreger
Der neue „Don Giovanni“ ist also eher ein Fall schwachen Regietheaters. Natürlich kann man sich fragen, wieso es schon wieder ein Mann vom Schauspiel sein musste. Die Antwort gäbe ein regelmäßiger Besuch der Kammerspiele oder des SpielArt-Festivals: Gerade von Seiten des Sprechtheaters her verwischen die Grenzen zum Musiktheater, so dass ein Austausch erfrischend sein kann. Der Erfolg von Andreas Kriegenburgs „Wozzeck“ beweist es.
Und was wäre die Alternative? Die Dirigentenoper im Stil von Riccardo Muti oder weiland Herbert von Karajan verwandelt das Theater in einen Konzertsaal und degradiert den Gesang zu Hintergrundmusik. Die Sänger-Oper alten Stils geht mit den Werken nicht weniger rücksichtslos um als das Regietheater, wenn sie das Ornament zum Selbstzweck erklärt. Übrigens: Was Pianisten wie Ivo Pogorelich mit den Noten anstellen, ist nicht weniger wild als die Einfälle vieler Theaterleute. Am Klavier geht dergleichen, weil nicht mit verstörenden Bildern verbunden, als Persönlichkeit durch.
Zur Oper gehört die verklärende Sehnsucht nach alten, angeblich glücklichen Zeiten, als die Theaterwelt noch in Ordnung war. Kimmigs „Don Giovanni“ ist gewiss kein Aufreger, der nach ein paar Jahren zum Klassiker erklärt wird. Theater muss ein Ort des Ausprobierens bleiben – mit dem Risiko des Scheiterns. Dass nach dieser Aufführung die Wogen höher schlagen als nach jeder Schauspielpremiere, beweist: Das interpretierende Theater deutschen Stils mit der starken Stellung des Regisseurs ist lebendig. Und die Oper ist das Gegenteil vom Museum: Hier gibt es noch heftige Gefühle.
Robert Braunmüller