Ein norwegisches Märchen wurde wahr
MOSKAU - Er sang von einem "Fairytale" - und das Märchen ging in Erfüllung: Mit riesigem Vorsprung holte Alexander Rybak den Grand-Prix-Sieg nach Norwegen. Matthias Breitinger erklärt das Geheimnis des Sieges des charmanten 23-Jährigen.
Die Punktevergabe gilt beim Grand Prix als spannender Höhepunkt des Abends - doch in diesem Jahr war das Spitzenfeld schnell entschieden: Nach wenigen Wertungen führte am Samstagabend der in Weißrussland geborene Norweger Alexander Rybak (23) schon deutlich, und der Vorsprung erhöhte sich von Wertung zu Wertung. Derweil gab es kaum Punkte für den deutschen Beitrag «Miss Kiss Kiss Bang». Während es wiederholt hieß «Norway twelve points», gingen Alex Swings Oscar Sings einmal mehr leer aus.
Selbst Island, Aserbaidschan oder die Türkei, die zwischendurch mal den zweiten Platz einnahmen, konnten Rybak und seinem etwas altmodischen, aber sympathischen Geigen-Pop nie gefährlich werden. Der charmante junge Mann mit den braunen Rehaugen lächelte immer wieder in die Kamera, sang in weißem Hemd und dunkler Weste ganz unverkrampft sein «Fairytale» über seine erste Liebe, fiedelte zwischendurch auf seiner Violine, und im Hintergrund gaben drei Tänzer eine Artistik-Einlage, die der Beitrag nicht unbedingt gebraucht hätte.
Schiefe Töne gabe kaum
Dabei war der enorme Vorsprung von 169 Punkten, den Alexander Rybak am Ende gegenüber der zweitplatzierten 18-jährigen Isländerin Yohanna rausgeholt hatte, durchaus nicht absehbar, als um 21 Uhr das weltgrößte Musik-Event in Moskau begann. Denn selten zuvor in den vergangenen Jahren war das Niveau der Beiträge ähnlich hoch. Ob eine atmosphärische R'n'B-Ballade im Stil Alicia Keys' aus Litauen, eine solide Mainstream-Nummer für Dänemark aus der Feder des irischen Popstars Ronan Keating, eine bosnische Balkan-Marschmelodie zu einer Szene aus «Les Miserables» oder moldawische Turbo-Polka mit Folklore-Tanz - nahezu alle der 25 Lieder waren ansprechend, schiefe Töne gab es kaum. Zu den Highlights gehörte eine Gänsehaut-Ballade von Frankreichs Superstar Patricia Kaas, die einfach nur auf der Bühne stand und allein durch ihre gewaltige Bühnenpräsenz zu Tränen rührte und die 20.000 Zuschauer in der Moskauer Olympiahalle zu Begeisterungsstürmen hinriss. Vermutlich verhinderte nur ihre schlechte Startposition zu Beginn des Wettbewerbs eine höhere Platzierung: Die Lothringerin erreichte Rang 8. Als weitere Popprominenz hatte die britische BBC den Musicalkönig Andrew Lloyd Webber verpflichtet, der am schwarzen Flügel auf der Bühne saß und die junge Sängerin Jade Ewen zu der von Webber komponierten Powerballade «It's my time» begleitete. Völlig verdient landeten beide auf Platz 5.
Singend im Kopfstand
Die skurrilen Comedynummern fehlten in diesem Jahr. Eine ganze Reihe von Balladen wetteiferten um die Punkte - dazu zählte neben der Kaas und Jade Ewen auch «What if we» von Maltas Wuchtbrumme Chiara, die in einem schwarzen Abendkleid bereits zum dritten Mal ihre Heimat vertrat. Nach einem 3. Platz 1998 und einem 2. Platz 2005 wäre nun - in Anlehnung an den Ebay-Werbeslogan - ein erster Platz nur folgerichtig gewesen. Doch dazu hätte es wohl eines besseren Liedes und eines weniger künstlichen Auftritts bedurft. «What if we», aus der Feder belgischer Autoren, war deutlich schwächer als Chiaras selbstgeschriebene Powerballade «Angel», die sie vor vier Jahren knapp hinter Siegerin Elena Paparizou («My number one») einsortierte. So war es nur Platz 22. Das Ernsthaft-Seriöse siegte in diesem Jahr klar vor den skurrilen und überfrachteten Performances. Was ist schon von dem ukrainischen Beitrag zu halten, der ganz offensichtlich auf riesige Showeffekte setzte, nur um von einer extrem dürftigen Melodei und noch dürftigeren Englisch-Kenntnissen abzulenken? Da kletterte Sängerin Svetlana Loboda auf großen Metallrädern herum und ließ sich, von halbnackten Tänzern in altrömischen Gladiatoren-Kostümen gehalten, zu einem Kopfstand hinreißen (brav weiter singend, wenn man es Singen nennen möchte).
«I'm your anti-crisis girl»
Als man schon glaubte, extremer gehe es jetzt wohl nicht mehr, wurde noch ein Schlagzeug auf die Bühne gekarrt, hinter dem Svetlana Platz nahm und die Klöppel schwang und dazu allen Ernstes sang, sie sei gekommen, um die Welt aus der Krise zu befreien («I'm your anti-crisis girl»). Man kann nur hoffen, dass die aktuelle Wirtschaftskrise nicht noch so schlimm wird, dass Frau Loboda unsere letzte Rettung wäre. Ihr musikalisches Konjunkturpaket zog nur bedingt: Platz 12 für die Ukraine. Knapp davor - und ebenfalls zu gut bewertet - landete die für Gastgeber Russland singende Anastasia Prikhodko, die in ihrer zu einem schulterfreien Kleid umgenähten Gardine zwar viel Applaus in der Halle erntete, aber eine belanglos langweilige Nummer über ihre Mama sang. Im starken Teilnehmerfeld fielen zudem der finnische DJ Bobo-Verschnitt und die hellblonde, etwas streng wirkende Spanierin Soraya mit einem seelenlosen Poptitel negativ auf.
Es geht immer noch größer
Den von Grand-Prix-Fans alljährlich verliehene Barbara-Dex-Award für das schlimmste Outfit des Abends könnte an den türkisfarbenen Ganzkörper-Glitzer-Phantomas aus Albanien gehen, der tanzend die 16-jährige Sängerin Kejsi Tola bei ihrem netten, aber belanglosen Pausenfüller «Carry me in your dreams» begleitete. Auch dem Griechen Sakis Rouvas, 2004 noch Dritter, war die Enttäuschung über den siebten Platz ins Gesicht geschrieben. Allerdings wirkte sein Auftritt zu verkrampft: In seiner Drei-Minuten-Performance mit wilden Sprüngen und einer nach oben fahrenden Rampe war ihm stets anzumerken: «Ich will hier gewinnen.» Genau an dieser Haltung scheiterte der 37-Jährige. Wie gut tut es da, dass der 54. Grand Prix neben überflüssigem Protz auch unaufdringliche Nummern bot - was sicher nicht ganz zu dem Riesen-Prunk passte, den die Gastgeber aufgefahren hatten, getreu dem Motto: «Es geht immer noch größer als im Vorjahr.» Also noch größere Halle, noch größeres Rahmenprogramm. Sogar Kosmonauten von der russischen Raumstation wurden kurz eingespielt.
Kühl kalkuliert und blutleer
Herausragend war als Anticlimax der Beitrag aus Portugal: Die Gruppe Flor-de-Lis agierte vor farbenfroher Sommer-Kulisse mit einem folkloristischen Lied, mit einer Sängerin im schlichten schwarzen Kleidchen und mit Instrumenten, wie man sie von Straßenmusikanten kennt: Akkordeon, Flöte und Trommel. Oder die Estin Sandra Nurmsalu, die - quasi als weiblicher Gegenpart zum Sieger Rybak - mit Geige auftrat, vor dunkler Kulisse sang und fiedelte und mit einem estnischen Text Platz 6 erreichte. Wer in Wettbüros auf einen Sieg des deutschen Duos Alex Swings, Oscar Sings gesetzt hatte, hätte von Beginn an wissen können, dass er damit sein Geld zum Fenster hinauswirft. Wer glaubte auch, dass Europa in Scharen für ein so kühl kalkuliertes, zugleich aber blutleeres Machwerk anrufen würde? Zumal für einen Swingtitel, wie er vor zwei Jahren schon nicht zog.
Deutschland wieder weit abgeschlagen
Selbst die etwas steif wirkende US-Burlesque-Tänzerin Dita von Teese, die auf Bitten der Veranstalter ihren Busen stärker bedeckte als sonst in ihren Shows, konnte den deutschen Beitrag nicht vor dem Absturz retten. Mit erotischen Posen und einer Reitgerte in der Hand ritt sie auf einem Kussmund-Sofa. Bei der Show riss die 36-Jährige dem drahtigen Oscar Loya das Hemd auf, der dann mit freiem Oberkörper tanzte. Immerhin: Der US-Amerikaner sang und tanzte viel besser, als ihm das viele zuvor zugetraut hatten. Deshalb darf Platz 20 durchaus als enttäuschend gelten. Alex Christensen nannte das Ergebnis nach der Show «ungeil», doch Oscar Loya hatte nach eigener Aussage «den größten Moment seines Lebens».
Knapp davor lagen aus Rumänien besungene «Balkan Girls», dargebracht von einer Handvoll Mädels in - bekanntlich beim ESC gern genommenen - kurzen Röckchen, sowie ein kroatischer Julio Iglesias mit Mondgesicht, der wehleidig eine folkloristische Ballade mit teils ziemlich gezogenen Tönen vortrug. Israels Versöhnungsnummer «There must be another way» von der Jüdin Noa und der Araberin Mira Awad landete ebenfalls nur im hinteren Mittelfeld.
Viel Bein und zum Teil etwas mehr
Dagegen zählte die Türkei wieder einmal zur Spitzengruppe: Die in Belgien geborene Hadise, in der Heimat ihrer türkischen Eltern bereits ein Superstar, bot mit drei Tänzerinnen eine orientalisch angehauchte R'n'B-Popnummer, in roten sexy Kostümen, die ihr in der Türkei im Vorfeld herbe Kritik eingebracht hatten, weil das in Streifen herabhängende Kleid ihre langen Beine zeigte - und zum Teil etwas mehr. Der eingängige Titel «Düm tek tek» mit Bauchtanzeinlage holte ordentlich Punkte, darunter Höchstwertungen aus der Schweiz, Frankreich, Aserbaidschan, Großbritannien, Mazedonien und ihrer belgischen Heimat. Vor Hadise landete der in Schweden produzierte aserbaidschanische Beitrag «Always» auf Platz 3. Arash, im Iran geboren und mit seinen Eltern nach Schweden ausgewandert, ist inzwischen in vielen Ländern Ost- und Südosteuropas erfolgreich, er sang seine Popnummer mit der 20-jährigen Aysel aus Aserbaidschans Hauptstadt Baku, einer wunderhübschen Schönheit mit langen schwarzen Haaren.
Norwegischer Geschichtenerzähler
Zwar galt auch ihr Beitrag auch dank der Pyrotechnik als Mitfavorit, doch letztlich lag der Nordwesten vorn: die kühle Blonde aus Island in einem hellblauen Oma-Kleid vor kitschiger Vollmond-Wolken-Szenerie - und eben ein knuddeliger Norweger, der erst am Mittwoch seinen 23. Geburtstag feierte und vor märchenhafter Häuserkulisse sich selbst das größte Geburtstagsgeschenk machte. «Ich weiß, dass viele eine bessere Stimme haben als ich, aber mein Trumpf ist, dass ich es liebe und weiß, Geschichten zu erzählen», sagte der gebürtige Weißrusse vor seinem Auftritt. Der Sohn einer Musikerfamilie hat seinen Song selbst komponiert und getextet. Seit seinem fünften Lebensjahr spielt Rybak Geige und Klavier - mit Schwerpunkt Klassik.
Sichtlich gerührt und voll Freude nahm Rybak auf der Bühne den Preis von Vorjahressieger Dima Bilan entgegen, bedankte sich artig auf Russisch für die vielen Punkte und den Sieg für sein selbst komponiertes «Fairytale» und konnte sein Glück ansonsten kaum fassen. «Ich werde aber nie etwas Größeres tun als diesen Grand Prix. Mehr geht nicht», meinte Rybak angesichts von mehr als 100 Millionen Fernsehzuschauern. Herzlichen Glückwunsch, Alexander Rybak. Das Märchen geht weiter - Oslo 2010.