Ein Herz für die Fremde
Autor Murathan Mungan liest Böll, Juli Zeh und Judith Hermann – seine deutschen Kollegen hingegen wissen wenig von türkischer Literatur
Er verkörpert wie kein anderer Autor die Widersprüchlichkeit der heutigen Türkei: Murathan Mungan, wie ein Popstar gefeierter Bestsellerautor, ist links, schwul und besitzt kurdische Wurzeln — in einem Land, in dem die ultrareligiösen Kräfte zu erstarken scheinen. In Deutschland sind bislang erst zwei Bücher erschienen: „Palast des Ostens“ (Unions Verlag) und nun – zur Buchmesse – der Roman „Tschador“ (Blumenbar Verlag). Darin kehrt ein junger Mann nach längerer Abwesenheit zurück in seine zu einem islamistischen Gottesstaat umgewandelte Heimat und versucht, seine Familie zu finden.
Herr Mungan, Sie haben einmal erwähnt, bei Lesungen in Deutschland fühlten Sie sich „nackt“. Inwiefern?
Wenn wir in der Türkei einen deutschen Schriftsteller lesen, Juli Zeh oder Judith Hermann, dann kennen wir den philosophischen, geschichtlichen, literarischen Hintergrund: Schiller, Johann Wolfgang von Goethe, Thomas Mann, Heinrich Böll. Wenn ein Deutscher Murathan Mungan liest, kennt er den kulturellen Hintergrund nicht. Das betrifft nicht nur die Leser, sondern auch die Schriftsteller selbst. Wie viele deutsche Autoren wären imstande, ein paar türkische Schriftsteller aufzuzählen? Da herrscht eine kulturelle Divergenz.
Ist es möglich, Ihre Romane ohne diesen Hintergrund zu verstehen?
Es ist möglich, aber schwieriger. Denn es geht nicht nur um die literarische Perspektive, sondern um fehlende kulturelle Referenzen. Andererseits berühren wir Kulturen, die uns fremd sind, zuerst mit dem Herzen. Um einen Film von Kurosawa zu mögen, müssen wir nicht alle Referenzen dieser Kultur kennen.
Sie haben einmal davon gesprochen, dass Sie in Ihre Texte Leserfallen einbauen.
In dem noch nicht übersetzten Buch „40 Zimmer“ gibt es die Erzählung „Tränen der Liebe“. Darin gibt es den Namen Umut, Hoffnung. Umut ist in der Türkei ein Name, den Frauen wie Männer tragen. Weil wir im türkischen für die Personalpronomen „er“ und „sie“ nur ein Wort haben, liest man diese Liebesgeschichte, ohne zu erfahren, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt, schließt aber das Paar und ihr Schicksal ins Herz. Am Ende erfährt man, dass es sich um eine schwule Liebe handelt. Fassbinder hat in „Faustrecht der Freiheit“ eine ähnliche Falle gestellt: Während er so tut, als würde er von einer homosexuellen Beziehung erzählen, erzählt er von einer bürgerlichen Ehe.
Wie ist es möglich, dass ein schwuler linker Autor mit kurdischen Wurzeln in der Türkei populär sein kann?
Zum einen habe ich viele Themen angesprochen, als sie in der Türkei noch tabu waren. Zum anderen versucht die Türkei, sich zu einem westlichen Land zu wandeln, zugleich aber die Tradition zu bewahren. Meine Werke, die von Mesopotamien her die ganze osmanische Tradition beinhalten, aber auch das Moderne berühren, scheint für viele Leser eine spannende Mischung zu sein. Und dass ich die Probleme bestimmter Gruppen besonders deutlich artikuliert habe, hat auch mit zu meiner Popularität in diesen Gruppen beigetragen. Dabei hat mich der Literaturbetrieb schnell vor die Tür gesetzt. Aber weil meine Leser mich groß gemacht haben, kann der Literaturbetrieb mich nicht mehr ignorieren.
Georg Kasch