Ein großes Wiener Schnitzel mit Spreegurke
Christian Thielemanns höchst persönliche Ansichten zum Thema Beethoven – mit den Wiener Philharmonikern in Berlin
Geschichten aus dem Wienerwald, erzählt in der Höhle des Löwen – das ist keine einfache Sache. Denn natürlich achten die Musik-Fans an der Spree peinlich darauf, dass niemand ihren geliebten Philharmonikern zunahe kommt. Und gegen jenes traditionsbewusste Musizieren, das die österreichischen Gäste demonstrierten, ließ sich trefflich polemisieren.
Die Kommentare in den Pausen waren nicht immer freundlich: Der verführerische Klang der Geigen – igitt, das ist nun wirklich von gestern. Die verletzbaren, sensiblen Holzbläser – da ist die einheimische Blasmusik schon von ganz anderem Kaliber. Berlins chauvinistische Konzert-Schickeria diskutierte dieses und einiges mehr in gewohnt offenherziger Schnoddrigkeit.
Erinnerungen an Carlos Klaiber
Dabei hatte Christian Thielemann seinen Beethoven-Zyklus mit den Wiener Philharmonikern zuvor bereits erfolgreich in Wien und Paris ausprobiert. Das Konzept, das sich während der vier restlos ausverkauften Konzerte feststellen ließ, war zwar nicht sonderlich revolutionär. Aber es unterschied sich doch wohltuend von der kühlen Eisschrank-Ästhetik, die derzeit vielfach als up to date angesehen wird.
Jede der neun Symphonien besaß ihre eigene Kontur. Widerspruch durfte sein. Etwa gegen die geradezu tastende Beschaulichkeit, mit der die Vierte dahin plätscherte. So mancher Münchner Berlin-Pilger mag sich da sehnsüchtig an seine Erlebnisse mit Carlos Kleiber und dem Bayerischen Staatsorchester erinnert haben. Auch die pingelig beachteten Wiederholungen – etwa in der Dritten und Siebten – trugen nicht dazu bei, die Spannungsbögen aufrecht zu erhalten.
Die grandiose Wucht, mit der Thielemann und die Wiener die 5. in Berlins Philharmonie schleuderten, überwältigte. Ebenso das Finale der Neunten, das sich nach unglaublich intensivem Pianissimo-Beginn der Streicher zu geradezu Brucknerscher Klanggewalt türmte, hinreißend unterstützt vom Rundfunkchor Berlin und zumindest nicht gestört von den Solisten Annette Dasch, Mihoko Fujimura, Robert Dean Smith und Robert Holl.
Faszinierende Nachdrücklichkeit
Der Trauermarsch der „Eroica“ erklang als ergreifende Klagemelodie. Die rhythmische Struktur blieb allenfalls angedeutet – das hätte schief gehen können, wenn nicht die Wiener Philharmoniker mit faszinierender Nachdrücklichkeit den Intentionen ihres Meisters gefolgt wären.
Wie das Orchester sich immer wieder den um Ruhe bittenden Anweisungen beugte, dabei auch in Kauf nahm, dass die eine oder andere Piano-Passage in den Bläsern nicht optimal gelang, deutete an, dass man bereit war, dem Dirigenten jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Christian Thielemann dankte, indem er immer wieder den seidigen, unvergleichlichen Streicherglanz ins rechte Licht rückte.
Modern oder altmodisch? Der Dirigent servierte seine höchstpersönlichen Ansichten, mehr nicht. Und das Orchester fügte sich: den ungewohnten Generalpausen, den Tempoveränderungen, den Eigenwilligkeiten. Aber Abenteuer sind nun einmal viel aufregender als vorhersehbare Routine. Auch in der Musik.
Volker Boser
DVDs mit sämtlichen Symphonien sowie erläuternder Dokumentation von Joachim Kaiser und Christian Thielemann sind bei C Major (Unitel) erschienen