Ein fantastischer Krimi im Kino: "Anatomie eines Falls"

Indizienprozesse sind die Thriller unter den Gerichtsverfahren, weil hier - ohne Geständnis und meist ohne Augenzeugen - plötzlich auch die Psychologie eine riesige Rolle spielt: Wer ist diese Mutter und Ehefrau, deren Mann nach fünf Minuten Film tot vor dem Haus im Schnee liegt. Er ist aus dem Dachgeschoss des gerade in Renovierung befindlichen Chalets gestürzt. Mord, Selbstmord oder Unfall? Ersteres bleibt bis zum Schluss am wahrscheinlichsten. Aber wie im Mordfall Vera Brühne changiert Sandra Hüller als Angeklagte im Film derart, dass man als Zuschauer mehrmals die Überzeugung wechselt und nie weiß, an wem man bei ihr ist.
Dass Hüller für ihre Darstellung keine Goldene Palme im Wettbewerb in Cannes gewann, lag nur daran, dass der Film selbst als Bester Film ausgezeichnet wurde.Jetzt hat er dafür gleich fünf Europäische Filmpreise abgeräumt und ist auf Oscarkurs.
In "Anatomie eines Falles" der Französin Justine Triet werden die Umstände um den Tod des Mannes (Samuel Theiss) atemberaubend aufgeschlüsselt. Die Rückblenden auf Eheauseinandersetzungen stellen dabei den Klassiker "Who is afraid of Virginia Woolf" in den Schatten. "Anatomie eines Falls" ist psychologisch noch differenzierter, schillernder.
Vielleicht ist auch das Beweisstück weniger klar, als man denkt
Und als dann der einzige Zeuge - der Sohn, der zum Zeitpunkt des Falls einen Spaziergang mit dem Blindenhund in der Nähe machte - vernommen wird, wird noch klarer: Auch er verfolgt wohl eine eigene Selbstschutz-Agenda.
Und was ist mit dem aufgetauchten Ton-Mitschnitt eines radikal schonungslosen Ehestreits? Vielleicht ist auch dieses Beweisstück weniger klar, als man denken könnte, da sie als Schriftstellerin auch Szenen einer Ehe für ihr Werk genutzt hat. Hat sie künstlich eskaliert? Hat er nur mitgespielt? Alles changiert zwischen verlorener Liebe, Betrug und Wut, Bewunderung - und vielleicht das Schlimmste: Verachtung.
Gerichtsthriller mit allen Facetten
Und während man immer wieder versucht, Klarheit zu bekommen, weil doch zur eigenen Sicherheit nur eines stimmen sollte, muss man immer mehr eingestehen, dass die Wirklichkeit eben viel widersprüchlicher ist, als uns das psychisch lieb ist.
Das alles passiert in diesem Krimi, der bei allem Ehe-Psycho-Thriller auch ein klassischer Gerichtsthriller mit allen Facetten ist, so dass wir als Zuschauer in ein geniales Wechselbad aus Sympathien für die verschieden Seiten, ja wechselnder Überzeugungen geraten. Gleichzeitig spiegelt sich der Prozess in den Medien und wir sehen den Einsatz von Kinderpsychologen. Denn der 11-jährige Sohn soll über die Ehe seiner Eltern aussagen.
Die Wahrheit geopfrt für Rechts- und Seelenfrieden?
Es geht bei allem auch um die Frage, wer wen zu welchem Eheleben gezwungen hat, wer mehr aufgeben musste und um die Frage, von welcher Dauer Schuldgefühle sind, wie man sie als stillen Vorwurf im Machtspiel einsetzen kann, nachdem eine Verfehlung des Vaters an der Erblindung des Sohnes mit vier Jahren beteiligt war.
Irgendwann - und das ist der Schlüssel zu diesem Film - sagt eine vom Gericht bestellte Jugendbetreuerin: "Wenn es zwei Möglichkeiten gibt, muss man sich entscheiden - zumindest funktioniert unser Rechtssystem so." Worauf der Junge antwortet: "Aber damit schafft man ja Wirklichkeit" - gemeint ist eine, die es so vielleicht gar nicht gibt, aber für den Rechts- und Seelenfrieden notwendig ist. Wenn man mit diesem Satz den Film noch einmal Revue passieren lässt, wird man rückblickend viele Szenen plötzlich auf spannende Weise anders werten - und auf die Spur der Wahrheit kommen. Das ist unheimlich spannend und was Beziehungen und die Psyche anbelangt wahrhaftig.
Kino: City, Leopold, Isabella (alle auch OmU) sowie Arena, Monopol, Theatiner (alle nur OmU)
R: Justine Triet (F, 180 Min.)