Ein Dorf von Theaterbegeisterten spielt weiter
Während die Abenddämmerung von den Bergen aufs Dorf fällt, läuft Spielleiter Christian Stückl höchstpersönlich mit einer Kuhglocke ums Passionsspielhaus und läutet zur Vorstellung.
Oberammergau - Das passt ins Bild – genauso wie die Jugendlichen, die zwei Stunden vor Premierenbeginn auf der Dorfstraße Programmhefte an Touristen und Theatergäste verkaufen. Oder der Oberammergauer Carsten Lück, der für einen kurzfristig erkrankten Mitspieler eingesprungen ist und den Rollentext in einer einzigen Nacht gelernt hat.
Oberammergau präsentiert sich als ein Dorf von Theaterverrückten, die keinesfalls die zehn Jahre bis zu den nächsten Passionsspielen ohne Bühnenkitzel überstehen wollen. Und so haben nur wenige Monate nach dem Ende der letzten Passion, die 2010 eine halbe Million Menschen aus der ganzen Welt gesehen haben, die Proben für die Stückl-Inszenierung „Joseph und seine Brüder“ begonnen. Am Freitag hatte die Bühnenadaption nach den Romanen von Thomas Mann Premiere.
2.000 Romanseiten in drei Stunden Theater
„Thomas Mann in Kurzform“ hatte Stückl angekündigt und aus den rund 2.000 Romanseiten eine mehr als dreistündige Bühnenfassung destilliert. Die Inszenierung konzentriert sich auf die Hauptfigur Joseph: Die 200-köpfige Truppe zeigt die alttestamentarische Geschichte des umhätschelten Lieblingssohnes, den Mayet als selbstverliebt-naiven Narziss spielt.
Joseph wird von seinen Brüdern aus Eifersucht nach Ägypten verkauft, wo er durch Zielstrebigkeit in allerhöchste Kreise aufsteigt und am Ende aber seinen Hochmut erkennen muss. Auch wenn dieses Mal nicht 2.000 Spieler auf der großen Freilichtbühne stehen, sondern 200, schließt die Inszenierung in manchem an die Passion an:
das Taubenblau der Kostüme, die choreografierten Massenszenen mit dem Chor und viele der Passionsspieler, die wieder auf der Bühne stehen. Einer der beiden Jesus-Darsteller, Frederik Mayet, spielt die Titelrolle, der andere, Andreas Richter, tritt als Josephs Bruder Ruben auf.
So schnell war der Übergang von der Erlösungsgeschichte Jesus Christus zum weltlichen Karrieristen Joseph, dass bei so manchem Spieler die neue Rolle transparent für die alte wird: „Gewöhn dir den weihevollen Ton ab“, soll Stückl bei den Proben zu seinem Hauptdarsteller gesagt haben.
Stückl ist mit dem Ergebnis zufrieden
Eine Fortschreibung der Passionsästhetik ist die Bühne von Stefan Hageneier, der das Tempelhaus durch einen Bühnenprospekt über die gesamte Breite verdeckt hat. Darauf eine mediterrane Landschaft, die sich plastisch auf der Vorderbühne fortsetzt mit grasbewachsenen Hügeln und einem knorrigen Olivenbaum.
Kies auf dem Boden lässt die Sandalenschritte knirschen. Die orientalisch anmutende Musik für Chor und Orchester stammt aus der Feder von Markus Zwink, der schon die Passion musikalisch geleitet hat.
Mit der Leistung von Chor und Orchester zeigte Zwink sich nach der Premiere zufrieden – zumal bei kühlen zwölf Grad Außentemperatur: „Ich hatte heute zum ersten Mal mein komplettes Orchester vor mir. Bei den Proben hat immer mal ein Instrument gefehlt. Ich bin sehr glücklich mit dem Ergebnis, vor allem bei dieser Kälte.
Wir haben wirklich der Witterung getrotzt.“ Auch Spielleiter Christian Stückl war nach der Premiere erleichtert: „Anfang Juni war ich noch in Hamburg und habe dort eine Oper inszeniert. Wir hatten nur knapp fünf Wochen – so wenig Zeit hatten wir noch nie. Wir waren oft bis nach Mitternacht bei der Probe und alle haben sich voll hineingeworfen. Ich finde, dass sie es gut gemacht haben.“
Noch sieben weitere Aufführungen geplant
Zu den Theaterbesuchern zählte die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Charlotte Knobloch. Schon seit ihrer Jugend beschäftige sie sich mit dem Stoff: „Der Neid, den die Brüder gegenüber Joseph empfunden haben, ist zeitlos. Das ist ein Thema, mit dem man heute noch täglich konfrontiert ist, wenn man die Zeitung öffnet.“
Für Stückls Interpretation der Josephsgeschichte interessiere sie sich besonders: „Wenn Stückl inszeniert, komme ich.“ Bis Mitte August wird die Josephsgeschichte noch sieben Mal im Passionstheater gespielt. Künftig will Stückl mit seiner Oberammergauer Truppe jährlich im Passionstheater spielen.