Ein Buch spreizt die Nation

Harter Sex, Sado-Maso, ein junges Mädchen und ein gut aussehender Geschäftsmann - schon hat man das Rezept für einen Erotik-Bestseller.
von  (sto/jmk/spot)

Berlin - Die Geschichte von Shades of Grey ist schnell erzählt: Die junge schüchterne Studentin Anastasia Steele lernt den attraktiven Millionär Christian Grey kennen und verliebt sich in ihn. Der wiederum hat ein dunkles Geheimnis, was sein Leben und seine Sexualität betrifft. Er unterbreitet ihr ein unmoralisches, vertraglich geregeltes Arrangement mit sexuellen Verpflichtungen; im Falle eines Verstoßes wird sie bestraft. Blind vor Liebe unterwirft sie sich ihm.

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Millionen Fans können kaum irren - aber warum sollte man sich oder seinen Lieben "Shades of Grey" unter den Weihnachtsbaum legen? Zum einen ist der Schreibstil sehr simpel gehalten, das Buch ist in Rekordzeit gelesen. Die Sätze sind kurz und übertrieben jugendlich aus der Sicht Anastasias beschrieben. Damit ist das Buch perfekt geeignet für die kurzweilige Lektüre über die Feiertage.

Zum anderen fühlt sich die 21-Jährige offenbar so wie viele Frauen: etwas unsicher, besonders im Bezug auf Männer, schüchtern, vermeintlich unerfahren. Und auch optisch entspricht sie dem, was Leserinnen hören wollen: attraktiv, aber keine exotische Schönheit - ein Durchschnittstyp. Das Alter passt ebenfalls zur Zielgruppe, jede Frau unter 40 kann sich gut in das Mädchen hineinversetzen, das von der großen Liebe träumt.

Doch weist das Buch auch einige Schwächen auf. Da wäre einerseits die fehlende Handlung: Anastasia und Christian besuchen sich, schreiben E-Mails, haben Sex in verschiedenen Stellungen - und das ist eigentlich auch schon alles. Ständig explodiert einer der beiden Protagonisten, den Namen des anderen schreiend, vor Lust. Dutzende Male Sätze zu lesen wie "Ich werde rot" und "Hör bitte auf, auf deiner Unterlippe zu kauen", ist auch nicht gerade einfallsreich.

Auch nimmt die Wandlung Anastasias von der Jungfrau zur Pornodarstellerin unrealistisch schnell ihren Lauf. Gerade noch hatte die Studentin ihren ersten Sex, am Morgen danach ist die bislang Unbedarfte bei ihrer ersten Fellatio aber gleich so überraschend talentiert, dass ihr weitaus erfahrenerer Partner nach nur zwei Sätzen zum Höhepunkt kommt.

Vor allem fragwürdig ist aber, was hier als romantisch verkauft wird. Sich einem Mann willenlos zu unterwerfen, jeglichen Stolz und Selbstwertgefühl zu verlieren und sich erniedrigen zu lassen - da gibt es bestimmt einfühlsamere Dinge. Christian macht ihr unverschämt teure Geschenke, um ihr somit seine "Fürsorge" zu beweisen und ihr trotzdem im Anschluss den Hintern zu versohlen - das klingt eher nach Escort-Service als nach Liebe. Anastasia lässt sich über 600 Seiten lang missbrauchen, aber immerhin mit gespaltenen Gefühlen: Einerseits plagt ihr schlechtes Gewissen sie wegen der vertraglich festgelegten, definitiv unmoralischen Dingen, andererseits jubelt ihre "Innere Göttin" bei jeder unzüchtigen Berührung durch ihren Peiniger.

Ob die innere Göttin der durchschnittlichen Leserin solche Emotionen nachvollziehen kann, ist mehr als fraglich. Aber als Geschenk unter dem Weihnachtsbaum taugt "Shades of Grey" nicht nur für masochistisch Veranlagte; auch als kurzweilige, kopfschüttelnde Belustigung oder als Basis für den nächsten Small Talk eignet es sich. Und wer nicht genug von Christian und Anas Spielchen bekommt, kann ja im Anschluss noch Teil zwei und Band drei lesen.

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