Eilige Kunstgeschichte
Eine runde und festspielwürdige Premiere: Ferruccio Busonis „Faust“ eröffnete die Münchner Opernfestspiele
"Man findet halt selten einen Trottel, der das alles lernt“, meint Thomas Hampson über diesen Faust. Die Bayerische Staatsoper hat die Ideal-Besetzung einer Wahnsinnspartie: Der kraftvolle Wolfgang Koch verteidigt drei Stunden lang mit athletischer Wucht seinen Bariton gegen die Hundertschaft im Graben, gestaltet intelligent und verkörpert dazu noch einen Verbitterten, der sich vergebens nach Macht und Schönheit sehnt.
Und es gab in der ersten Festspielpremiere im Nationaltheater noch mehr zu entdecken: Ferruccio Busonis herbdeutsche Kontrapunktik passt ideal zum satt-dunklen Staatsorchester. Der junge tschechische Dirigent Tomáš Netopil legte die dicht gewobenen Linien frei und holte die impressionistische Farbigkeit einer spröden Musik ohne Kantilenen hervor, die sich weniger süffig schlürft als Richard Strauss.
Fürs letzte Opernglück fehlte die Szene. Regisseur Nicolas Brieger verwandelte den frustrierten Wissenschaftler in einen Künstler, dessen stahlbehelmtes Double beim Orchestervorspiel an einem Kriegstrauma laboriert. Als Anspielung auf die Entstehungszeit und Busonis selbstgewähltes Exil während des Ersten Weltkriegs mag es hingehen, aber es blieb eine Behauptung wie fast alle Thesen des Regisseurs.
Rasch durcheilte die Inszenierung im Plastikmilchglashaus (Bühne: Hermann Feuchter) die Kunstgeschichte: Aus dem von schwarzen Faschisten ermordeten Bruder schuf Faust schnell ein Schüttbild im Stil von Hermann Nitsch. Zu Ferrara pinselte ein Affe surrealistisch, und der Künstler zeigte dem geneigten Publikum als Aktionist den nackten Hintern. Erst gegen Ende gab es stärkere Momente, als Faust-Doubles aus zerschnittenen Selbstbildnissen den Maler bedrängten, und die unerreichbare Helena lediglich in Gestalt ihrer sechs Buchstaben erschien.
Die Staatsoper spielt die unvollendete Oper als Fragment mit verstummendem Orchester und einem gesprochenen Schluss. Dass Busoni an der Wiedergeburt Fausts als nacktem Jüngling scheiterte, der mit einem blühenden Zweig durch winterliche Wittenberg ins neue Leben schreitet, ist aber nur aus dem Programmheft zu erfahren. Und so endet die Inszenierung kaum anders als in der lange üblichen Version des Busoni-Schülers Philipp Jarnach mit dem katastrophalen Untergang des Helden, den der Komponist gerade nicht haben wollte.
Ein Quäntchen Mut zu den Widersprüchen des wenig bekannten Meisterwerks hätte nicht geschadet. Aber die Inszenierung stört kaum. Nicolas Brieger fiel zum deutschesten aller Mythen zwar nicht viel mehr ein als beliebige Bilder, aber er erzählt die für die Münchner neue Oper immerhin verständlich. Deshalb fielen die obligatorischen Buhs für die Regie diesmal aus.
Auch die Sänger wurden heftig bejubelt. John Daszaks schneidender und in der Höhe manchmal kippender Tenor passt zum Mephistopheles, den Brieger als zwiegeschlechtlichen Doppelgänger von Faust gebären ließ. Beim Schlussbeifall wunderte man sich über den fehlenden Herzog von Ferrara: Der Regisseur machte leider nichts aus der Doppelbesetzung mit Gretchens Bruder (Raymond Very). Und wer die vielseitige Catherine Naglestadt aus Stuttgart kennt, freute sich, die geradeheraus singende Sopranistin endlich auch einmal wenigstens als Herzogin im Nationaltheater zu hören.
Eine runde und festspielwürdige Premiere also. Dass die Inszenierung Kenner nicht zufriedenstellt, sollte niemand vor der Bekanntschaft mit dem Komponisten Ferruccio Busoni hindern, aus dessen spätromantischer Düsternis die Avantgarde wetterleuchtet.
Robert Braunmüller
Nationaltheater, wieder am 3. und 7. Juli (19 Uhr) sowie im Dezember. Tel. 21 85 19 20