Edward Snowdens Vorläufer

Spannungs-Spezialist Robert Harris hat aus dem Dreyfus-Skandal mit „Intrige“ den wohl bewegendsten Thriller des Jahres gemacht
Volker Isfort |
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Es ist einer der beschämendsten Fälle in der französischen Geschichte: 1895 wird der französische Hauptmann Alfred Dreyfus zu Unrecht der Spionage bezichtigt, degradiert und zu lebenslanger Isolationshaft auf der Teufelsinsel vor Französisch-Guayana verurteilt. Der Fall und der Revisionsprozess vier Jahre später spaltet die französische Gesellschaft tief und hält ganz Europa in Atem. Vielen ist klar: Dreyfus hat gar kein Motiv. Anderen gilt der aus dem Elsass stammende Jude als Vaterlandsverräter.

Der New Yorker Anwalt und Autor Louis Begley hat 2009 den legendären Fall neu beschrieben und Parallelen zum Guantánamo-Unrecht der US-Regierung gezogen. Jetzt hat sich der britische Spannungs-Spezialist Robert Harris („Vaterland“, „Ghost“) tief in die Dreyfus-Recherche begeben. Sein Roman „Intrige“ ist ein Meisterwerk geworden. Harris bereitet den Fall so plastisch auf, dass auch der heutige Leser vor Wut und Beklemmung über so viel Unrecht und Lüge schier verzweifelt.

„Intrige“ beginnt mit der damals bewusst theatralisch inszenierten öffentlichen Degradierung des Hauptmannes, die von tausenden aufgehetzten Parisern verfolgt wurde. Seinen Roman hat Harris im Präsens verfasst, der Leser folgt dem Fall mit den Augen des Helden Georges Picquart, der nach der Aburteilung von Dreyfus zum neuen Leiter des Militärgeheimdienstes berufen wird. Picquart ist zunächst davon überzeugt, dass Dreyfus dem Deutschen Botschafter in Paris Militärgeheimnisse übermittelt hat, doch dann stößt er auf Ungereimtheiten. Er verbeißt sich – sehr zum Unwillen seiner Vorgesetzten – in den abgeschlossenen Fall. Kann es sein, dass der Geheimdienst selbst die Beweise gegen Dreyfus gefälscht hat? Picquart wird zum unbeirrten Jäger der Wahrheit und schließlich selbst Opfer einer ungeheuren Intrige. Aber er hat Mitstreiter wie den Schriftsteller Émile Zola, dessen legendärer Artikel „J’accuse…!“ entscheidend dazu beiträgt, den Zweifel an der rechtmäßigen Verurteilung weiter zu nähren.

Harris’ Roman liefert ein facettenreiches Stimmungsbild Frankreichs, zeigt den wahnwitzigen Antisemitismus und den falschen Moralbegriff der Militärs, denen die Niederlage gegen das Kaiserreich 1871 das Selbstbewusstsein genommen hat. Das Klammern an die eigene Lüge wird einigen noch zum Verhängnis. [GRUNDTEXT]Aber das Happy End für Dreyfus bleibt eines zweiter Klasse.
Der Stoff, den Harris so packend aufbereitet hat, ist für ihn keineswegs Vergangenheit. So kann man „Intrige“ auch als einen Thriller lesen über außer Kontrolle geratene Geheimdienste, die sich über jedes Recht stellen, und einzelne Helden, die für den Kampf um die Wahrheit ihr Leben riskieren. George Picquart ist Edward Snowdens Vorläufer

Robert Harris stellt „Intrige“ (Heyne, 622 Seiten, 22.99 Euro) am 12. November um 19 Uhr im Literaturhaus vor. Eintritt: 9 Euro

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