Doppelte Unterwäsche

Die Kälte war Pausenthema Nummer eins am Samstag bei Klassik am Odeonsplatz. Hélene Grimaud verzauberte mit Poesie, Dirigent Andris Nelsons begeisterte mit dem BR-Symphonieorchester
von  Abendzeitung

Die Kälte war Pausenthema Nummer eins am Samstag bei Klassik am Odeonsplatz. Hélène Grimaud verzauberte mit Poesie, Dirigent Andris Nelsons begeisterte mit dem BR-Symphonieorchester

Des is da Klimawandl“, stellt ein lederbehoster Paradebayer am Bierstand fest. Seine tief dekolletierte Dirndlbegleitung versucht sich mit skigymnastischen Hopsern aufzuwärmen und hätte lieber Glühwein. Was bei elf Grad dienlicher wäre als ein Helles. Trotzdem ist die Stimmung prima. Denn „es hat nicht gerrregnet!“ Völlig erleichtert ruft Dirigent Andris Nelsons das Wichtigste an diesem Abend ins Mikro, bedankt sich beim Publikum mit sonor-baltischem Akzent für die „good Enerrrgy“ und heizt dieser Nacht mit Chatschaturjans „Säbeltanz“ ein.

Die Münchner hatten die Kälte eh weggesteckt, wenn's um Klassik am Odeonsplatz geht, erinnert man sich gepflegter Wintersportqualitäten. Und sorgt – undercover – mit hypermoderner Funktionswäsche, Angora oder Decken vor. Trotzdem waren die Temperaturen Pausenthema Nummer eins, und statt über Großevent-Roben zu lästern, wurden „Dessous“-Fragen geklärt.

Volle Dröhnung

Erst dann kam die Sprache auf belle Hélène. Die französische Tastensirene flog im weißen Anzug mit Gehrock ein, machte nicht viel Tamtam und konzentrierte sich aufs Wesentliche. Rachmaninows zweites Klavierkonzert hatte einen denkbar schlechten Start. Zum üblichen Vogelgezwitscher dröhnten die ersten Takte aus den Lautsprecheranlagen, und eine Klangsoße der üppigen Art ergoss sich über den ziemlich gut besuchten Platz.

Die Technik bemühte sich, schnell zu korrigieren, doch fast bis zum Ende des Kopfsatzes klang das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks konservig und der Steinway kaum nach einem Spitzenflügel. Die Grimaud hätte sich am Pedal besser zurückgenommen – und bestach trotzdem mit glasklaren Klavierkaskaden im Einstiegs-Moderato.

Nelsons ließ ihr alle Freiheiten, die sie nutzt um sinnfällig zu gestalten. Im verträumten Adagio entspann sich ein delikater Dialog zwischen Klavier und Bläsern (fabelhaft: Henrik Wiese), das klang fast der Welt entrückt, aber die Pianistin ist immer auch bereit für den explosiven Ausbruch. Dann scheint kein Halten mehr zu sein, und doch behält sie immer auch die Kontrolle. Bei allem Sinn für Poesie verleiht das diesem spätromantischen Schwelgklassiker etwas Entspanntes. Selbst im kontrapunktisch verdichteten Finale.

Mit Fettrand

Erst recht ist Nelsons kein Asket, Diätkost käme sowieso nie in Frage. Dafür begreift der erst 30-jährige Lette die Musik viel zu sehr aus dem erdig Organischen heraus, lässt die einzelnen Orchestergruppen atmen, sich verweben und wird so zum fesselnden Erzähler. Er fühlt sich hörbar wohl, wenn er Handlungsstränge entwickeln und zu einem stimmigen Ganzen fügen kann. Der Mix aus Prokofjews „Romeo und Julia“-Suiten kam da gerade recht, auch wenn manches subtile Detail im Konzertsaal besser aufgehoben wäre.

Nelsons stellte kraftvolle Motorik und melodischen Reichtum, Pathos und Ironie, Phongewitter und kammermusikalische Raffinesse behutsam gegenüber, verausgabte sich wie ein Mauersegler, flatterte mit den endlosen Armen und schafft es, samt Orchester abzuheben. Erstaunlich, dass man nach diesem Höhenflug noch Zugaben genießen konnte.

Aber mit einem Schmachtfetzen aus Puccinis „Manon“ empfahl sich der Pult-Derwisch dringend für den Tempel am Max-Joseph-Platz. Und beim strausshaft-launigen Rausschmeißer aus „So lang der alte Peter“ und „In München steht ein Hofbräuhaus“ zauberte Nelsons selbst Konzertmeister Andreas Röhn, Markenzeichen Zitrone auf der Zunge, ein Lächeln aufs Gesicht.

Christa Sigg

merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.