Ditlevsens "Kopenhagen-Trilogie" am Marstall

Regisseurin Elsa-Sophie Jach bringt die dreiteilige Autobiografie der dänischen Autorin Tove Ditlevsen auf die Bühne
von  Michael Stadler
Szene aus der zur Bühnenversion verdichteten "Kopenhagen-Trilogie" - mit Cathrin Störmer, Max Rothbart und Pia Händler (von links).
Szene aus der zur Bühnenversion verdichteten "Kopenhagen-Trilogie" - mit Cathrin Störmer, Max Rothbart und Pia Händler (von links). © Birgit Hupfeld

Welche Wirkung ein Gedicht haben kann, darf man in dieser Inszenierung für einen Moment an einem Gesicht ablesen. Da sitzt Tove Ditlevsen, gespielt von Pia Händler, neben einem Kavalier, gespielt von Max Rothbart, und sie flüstert ihm ihren Vierzeiler "An mein totes Kind" ins Ohr. Während sie spricht, weiten sich seine Augen, er wirkt zunehmend beglückt und möchte das Werk gleich noch einmal hören.


Aus der Enge ihrer Existenz heraus, als Kind einer Arbeiterfamilie, die in einer Zweizimmerwohnung im Kopenhagener Viertel Vesterbro lebte, hat Tove Ditlevsen ihre ersten Gedichte geschrieben. Die Lyrik ermöglichte ihr, innerlich auszubrechen, einen Blick in die Weite zu werfen. Wobei "An mein totes Kind" das Gefühl einer Frau beschreibt, die ihr Kind bei der Geburt verloren hat. Sie stecke voller Lügen, sagt der ebenfalls von Max Rothbart gespielte Bruder zu Tove. "Du hast doch kein totes Kind geboren!" Zweimal in ihrem Leben wird sie jedoch abtreiben - die Fiktion kommt der zukünftigen Realität nahe.

Die (Zeit-)Räume können sich in Elsa-Sophie Jachs Adaption von Tove Ditlevsens "Kopenhagen-Trilogie" ganz schnell verändern. Allein schon das Bühnenbild von Marlene Lockemann ermöglicht ein ständiges Wechselspiel von Enge und Weite, erweist sich doch der über mehrere Podeste zentral gesetzte, teils mit weißen Stoffwänden abgegrenzte Spielraum als raffinierte Konstruktion von drei Stahlgerüsten, die gesteuert von den Technikern auseinanderfahren oder sich ineinanderschieben können. Manchmal sind die Darstellenden zwischen den Wänden eingezwängt, manchmal bekommen sie unerwartet Luft.

In drei schmalen Bänden erzählt Ditlevsen von ihrem frühen Leben: davon, was für eine komplizierte Beziehung sie in ihrer "Kindheit" mit ihren Eltern, vor allem mit ihrer Mutter, hatte, wie sie in ihrer "Jugend" erste literarische Erfolge feierte und erste Liebschaften erlebte, um mit 20 Jahren in "Abhängigkeit" zu ihrem dritten Ehemann Carl zu geraten - einem psychotischen Arzt, der sie aufgrund vorgetäuschter Ohrenschmerzen mit Drogen versorgte, von denen sie süchtig wurde. Die Ich-Erzählung verstärkt dabei den Eindruck des Selbst-Erlebten, doch Ditlevsen nimmt sich in ihrer Erinnerungsarbeit künstlerische Freiheiten: Es handelt sich um Auto-Fiktion, geschrieben in schlanken, eleganten Sätzen.


Die Lakonie von Ditlevsens Prosa überträgt sich in der Inszenierung jedoch kaum. Der Tonfall wirkt oftmals überdramatisch, theatralisch aufgeregt; darunter pulsiert immer wieder die vom Bühnenrand live eingespielte Elektromusik von Samuel Wootton, der zudem verschiedene Geräuschkulissen erzeugt. Diesen spezifischen Sound kann man auch positiv bewerten, da die Umsetzung von Literatur ja immer Verdichtung erfordert und umso interessanter wird, je eigenwilliger der Ansatz ist.


Ausgehend von Tom Silkebergs Bühnenbearbeitung hat Elsa-Sophie Jach eine eigene Fassung erstellt, in der zum Teil mehrere Figuren und Stationen aus dem Leben Ditlevsens ineinander verschmelzen. Naffie Janha spielt zum Beispiel sowohl die junge Tove, als auch deren erste Freundin Nina, die sie aus den Augen verliert, die aber später wieder auftaucht und die beratende Freundinnenposition weiterhin besetzt.

Manche Figuren könnte man als Leser der Trilogie dennoch vermissen. Ditlevsens zweiten Gatten Ebbe etwa, der im dritten Buch "Abhängigkeit" einiges an Erzählraum einnimmt, in der Inszenierung aber in aller Kürze dem schweigsamen Musiker Wootton zugeschlagen wird. In was für einer übergriffigen Männerwelt Ditlevsen groß wurde, mit Chefs, die ihre weiblichen Unterstellten küssten oder anfassten, davon erzählt die Inszenierung genauso wenig wie vom lockeren Umgang mit der Ehe. Affären gehörten offenbar zur Tagesordnung im Dänemark der 1920er und 1930er, in Hauseingängen ging man auf Tuchfühlung, ob verheiratet oder nicht. Im Roman küsst Tove den Kavalier, der am nächsten Tag nach Spanien fahren wird, um dort im Bürgerkrieg mitzukämpfen. Auf der Bühne entzieht sie sich dem Kuss.


Keimfreies Theater also, bei dem eine(r) viele sein kann und umgekehrt. Bei den Nebenrollen funktioniert das prächtig: Thomas Reisinger verkörpert einen frechen Jungen genauso überzeugend wie Toves Vater oder den alten Herausgeber einer Zeitschrift, der Toves erster Gatte wird. Max Rothbart verkörpert Toves Bruder genauso anrührend, wie er den dritten Ehemann Carl zum gefährlich ruhigen Gegenüber macht. Da Ditlevsen in ihrer Trilogie von einer überschaubaren Zeitspanne erzählt, vom Kind zur Zwanzigjährigen, die nebenbei die Besatzung Dänemarks durch die deutschen Soldaten wahrnimmt, erschließt sich nicht unbedingt, wieso drei Frauen unterschiedlichen Alters sie spielen.


Über weite Strecken übernimmt sowieso Pia Händler die Hauptrolle. Ihr gelingt es, eine energetische, leichtfüßige Dichterin in spe zu spielen, die trotz aller Hindernisse selbstbewusst ihren Weg geht. Wie Ditlevsen zuletzt in die Abhängigkeit abrutscht und einen qualvollen Entzug durchmachen muss, stellt Cathrin Störmer eindrucksvoll dar. Zuvor konturierte Störmer zwei Nebenfiguren mit unterschiedlicher Körperlichkeit: gebückt und verhärmt Toves Mutter, aufrecht nationalsozialistisch Toves Vermieterin.


Die Abhängigkeitsphase inszeniert Jach als Film, die Live-Kamera zeigt die Gesichter in Nahaufnahme. Womit der Kreis zum Beginn der Inszenierung geschlossen wird: Da zitierten die drei Darstellerinnen in einem Video eine Passage aus Tove Ditlevsens Roman "Gesichter". Wie schnell Gesichter sich verändern können, dass man auf sie achtgeben muss, heißt es da. Jach und ihr Team haben der "Kopenhagen-Trilogie" nun gleich mehrere Gesichter gegeben. Die klarste Gestalt aber hat die literarische Vorlage.

Marstall, nächste Aufführungen: 20., 26. März, 11., 17. und 20. April, jeweils 19 Uhr; Karten unter Telefon 089 - 2185 1940

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