Diskokugelkinder

„Why I Never Became a Dancer” – in ihrer zweiten Ausstellung im Luftschutzbunker des Hauses der Kunst zeigt Sammlerin Ingvild Goetz 15 Videoarbeiten rund ums Thema Jugend
von  Christa Sigg

Dieses Kreischen! Wie eine Sirene bohrt es sich ins Ohr. Alarmstufe Rot, sozusagen. Und biegt man beklommen ums Eck, tut sich eine Welt roten Wahnsinns auf, als sei die Kombination aus Geburtstagssause und Weihnachtsfest aus dem Ruder gelaufen: Mit Glitzer, Glimmer, Trash und Tausenden Herzchen feiert Ryan Trecartin in seinem Video das „Valentine’s Day Girl” – Cindy aus Marzahn auf Speed wäre dagegen ein Hascherl. Und sicher markiert diese Arbeit des 30-jährigen Texaners ein Extrem der neuen Ausstellung in den Katakomben des Hauses der Kunst.

Durchgeknalltes Konsumverhalten

Ingvild Goetz, die auch diesen zweiten Teil ihrer Zusammenarbeit mit dem HdK kuratiert hat, ist selbst nicht ganz frei von Unbehagen. Verständlich. Doch Irritationen machen die Sammlerin bekanntlich neugierig. Trecartin, der hier ein völlig durchgeknalltes Konsumverhalten vor Augen führt, wird in der jungen US-Kunstszene als neuer Andy Warhol gefeiert, das dürfte auch hier die Popartaffinen anlocken. Und tatsächlich zieht dieses irre Valentine-Mädel irgendwie an und ist dann doch kaum auszuhalten.

Augenbalsam à la David Claerbout sucht man vergeblich, schließlich geht’s um „die Jugend”, wie man das früher so schön formuliert hat, junge Leute in einer Pop- und vor allem Mediengesellschaft, ihre Suche nach sich selbst, die üblichen Verhaltensmuster, ihre Party- und zuweilen ihre Exzesskultur. Aber auch ihre Ängste und Verletzungen.

Tracey Emin könnte man dieser düsteren Seite zuschlagen, wenn sie wieder einmal ihre krude Jugend in den Mittelpunkt stellt, im titelgebenden Video „Why I Never Became a Dancer” von wahllosen sexuellen Begegnungen erzählt. Mit 15 hört sie damit abrupt auf, beginnt zu tanzen – man sieht die über 30-Jährige durchs Atelier wackeln –, als wolle sie den erlebten Horror beschwören, bändigen. Emin hat es ja geschafft, sich aus ihrem Randzonen-Gefängnis zu befreien, ist in London längst gehypte Künstlerin – mit den Scherben und all dem Schmerz aus ihrer grausamen alten Welt.

Rammelnde Cyberwesen

Der entkommen nur wenige. Gillian Wearing bringt das in einer beklemmenden Arbeit auf den Punkt, indem er Kinder von ihren Sorgen, ihrer Einsamkeit erzählen lässt, dazu aber Erwachsene filmt, einen gescheiterten Grauhaarigen im Trainingsanzug etwa, und die Mundbewegungen mit den Kindertexten koordiniert. Eindrucksvoller kann man die - bleibenden - Wunden einer Kindheit kaum formulieren.

Leichtgewichtig ist diese Ausstellung nicht, auch wenn eine gute Portion Party von oben, dem P1, nach unten, in den Luftschutzkeller gewandert zu sein scheint, Diskokugeln sich drehen und gelenkige Girlies die Hüften kreisen lassen (Andrea Bowers, Mark Leckey), Cyberwesen munter drauflos rammeln (Cao Fei) und angeschickerte Mädels ihren Silvesterspaß haben. Wobei die anziehendsten Bilder wieder mal die stilleren sind: das kleine Mädchen, das Doug Aitken, im Haustruck durch die Lande schickt, gebetsmühlenartig „You can’t stop” skandierend – und noch im Zug der Bewegung und der zwischengeblendeten Großstadtrasanz tief in die traurigen Augen blicken lässt.

Bis 1. April 2012, Freitag bis Sonntag 10 bis 20 Uhr, Katalog 20 Euro (Hatje Cantz)

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