Digitales Schreiben über Nacht
Es ist für den Grimme-Online-Award nominiert, wird täglich von mehr als 20.000 Interessierten besucht und genießt auch offline einen guten Ruf: Das Webportal Nachtkritik.de spielt in der Theaterkritik eine bedeutende Rolle.
Davon hätten Euripides oder William Shakespeare nicht zu träumen gewagt: Während die Welt im Schlaf liegt, schreiben emsige Theaterkritiker zwischen Wien und Kiel, Berlin und Bern ihre nächtlichen Kritiken.
In der deutschsprachigen Bühnenlandschaft wächst die Bedeutung des neuen Internetportals Nachtkritik.de («Sie schlafen. Wir schreiben.») stetig: Bis zu 90.000 Theaterfans monatlich lesen bereits zur Frühstückszeit die Rezensionen, informieren sich über Festivals oder geben in durchaus erbitterten Leserdiskussionen den Profi-Kritikern auch gern Widerworte. Über die fast 27.000 Seitenaufrufe täglich freuen sich die digitalen Bühnenkritiker: «Die Zahl steigt kontinuierlich», berichtet in Berlin Geschäftsführerin und Portal-Mitbegründerin Esther Slevogt. Begonnen hatte alles vor genau zwei Jahren im Mai 2007: Damals ging das Portal als Medienpartner des hoch angesehenen Berliner Theatertreffens online. Mittlerweile rückt wirtschaftliche Stabilität dank Werbung für das originelle Kulturprojekt mit seinen etwa 60 festen freien Autoren und Mitarbeitern in Sichtweite.
Nominiert für den Grimme-Online-Award
Derzeit sind drei Nachtkritiker beim Dramatiker-Preis «Stücke 09» in Mülheim aktiv: Zwei Redakteure rezensieren hier bis zum 2. Juni die besten deutschsprachigen Bühnenwerke, ein weiterer Kollege sitzt in der Jury. Und als Mühe all der nächtlichen Plackerei nominierte das Grimme-Institut in Marl Nachtkritik.de gerade für seinen begehrten Online-Award. «Vorbildlich» sei, dass hier das Internet den Weg zum Kulturgut Theater nicht verdränge, sondern ihm sogar einen neuen Zugang eröffne.
«Hohe Aktualität und die umfangreichen Diskussionsmöglichkeiten» des schnellen neuen Mediums hätten für den namhaften Mülheimer Dramatikerwettbewerb die Kooperation mit den Internet-Kritikern attraktiv gemacht, erklärt «Stücke»-Sprecherin Stephanie Steinberg. Mögliche Fehlurteile der gehetzten Kritikerriege könnten ja über Leserkommentare «abgefedert» werden, böten aber auf jeden Fall «eine Diskussionsgrundlage». Geschäftsführerin und Redakteure Slevogt: «Wir haben die Einbahnstraße der Kritik konsequent für den Gegenverkehr freigegeben.»
Stimmungsbild über das Theater
Das Ende der klassischen Rezension, auf die der Bühnenfan allenfalls mit Leserbriefen reagieren kann, konstatiert auch der alterfahrene Theaterkritiker und «Zeit»-Autor Gerhard Jörder. Er bekomme dank der Leserdiskussionen in Nachtkritik.de «ein Stimmungsbild über das Theater und ein Meinungsbild über Ästhetiken, das ich in anderen Medien sonst nicht zur Kenntnis nehmen kann». So «schwer erträglich» auch manchmal der Internet-Chat der Theaterfreaks sei, «so interessant kann das gesamte Meinungsbild sein», meint Jörder. In Zeiten stetig schrumpfender Zeitungs-Feuilletons biete das Internet schließlich auch kleineren Theatern in Deutschland, Österreich oder der Schweiz eine große Bühne, sagt Jörder.
Gut sortiertes Archiv
«Wer schnell eine Kritik lesen möchte, der wird bei Nachtkritik.de gut bedient», kommentiert in Köln der Deutsche Bühnenverein als Theater-Dachverband. Jedoch ersetzte das Portal keine Feuilletons von Tageszeitungen oder Theatermagazinen, sagt Bühnenvereins-Geschäftsführer Rolf Bolwin: «Schnelligkeit ist ja in unserem Gewerbe nicht alles.»
Dass sich selbst gestandene Kritiker «konventioneller» Medien teils an den frischen Beiträgen, teils aber auch am gut sortierten Archiv mit etwa knapp 2000 Theater-Texten der elektronischen Kollegen gern bedienen, ist längst kein Geheimnis mehr. Geschäftsführerin Slevogt dazu: «Das ehrt uns mehr als dass es uns ärgert!» (Gerd Korinthenberg/dpa)
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