Dieter Hildebrandt: Bühne statt Psychiater

Auch nach sechs Jahrzehnten Kabarett lässt Dieter Hildebrandt die politische Realität nicht los – er schreibt sich sein neues Programm „Ich kann doch auch nichts dafür“
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Auch nach sechs Jahrzehnten Kabarett lässt Dieter Hildebrandt die politische Realität nicht los – er schreibt sich sein neues Programm „Ich kann doch auch nichts dafür“

Ich komme nicht aus dem Ruhestand zurück, ich hatte noch überhaupt keinen“, sagt Dieter Hildebrandt bestimmt. Rund 180 Lesungen hat der 83-jährige Kabarettist zuletzt im Jahr gehalten, ab Dienstag stellt er sein neues Programm „Ich kann doch auch nichts dafür“ in der Lach & Schieß vor.

AZ: Herr Hildebrandt, haben Sie den Premierenabend schon auswendig im Kopf?

DIETER HILDEBRANDT: Ich denke nicht daran. Ich habe so viel in meinem Leben auswendig gelernt! Nun habe ich festgestellt, es ist präziser, wenn ich ablese. Sonst fang’ ich an zu fantasieren.

Sie können trotzdem jeden Abend spontan auf die Politik reagieren?

Das ist ja der Sinn der Sache. Ich habe jeden Abend die Möglichkeit, etwas loszuwerden, was mich aufregt. Ich spare mir den Psychiater.

Bräuchten Sie sonst einen?

Aber selbstverständlich. Und es gibt jeden Tag eine neue Aufregung. Aktuell zum Beispiel die Verhandlung der Kernindustrie mit der Bundesregierung. Mit welchem Kalkül die ans Werk gehen! Die spielen mit uns, vor unser aller Augen. Es geht nur ums Geld, um 120 Milliarden Euro, die sie verdienen werden, wenn sie die zwölf Jahre Verlängerung für die maroden Kernkraftwerke bekommen. Der Berg des Atommülls, auf dem wir ja nach wie vor sitzen, nachdem wie keine Endlagerung gefunden haben, wird immer höher. Ich müsste ja eigentlich auf der Straße stehen und unentwegt schreien. Aber das tue ich nicht, weil das unwürdig ist – in meinem Alter ganz besonders.

Wagen Sie es noch, auf Herrn Westerwelle draufzuhauen, oder lassen Sie ihn unbeachtet am Boden liegen?

Mit zwei, drei Nebenbemerkungen möchte ich schon mitteilen, dass er seinen Job nicht ausführt. Dass wir einen Außenminister haben, der mehr belacht wird als bestaunt, halte ich auch nicht für eine Dauerlösung.

Eine Kabinettsreform steht aber nicht an.

Tja, die Personaldecke hat Löcher, und die Löcher regieren.

Dafür gilt Wulff jetzt schon als populär.

Das ist richtig, weil er gar nichts macht. Der spricht vor der Bundeswehr und erwähnt nicht einmal die Wehrpflicht, weil er niemandem weh tun will. Ich meine, dass ein Bundespräsident doch eine Aufgabe hat, nämlich ein wenig über das Niveau dieser politischen Veranstaltung zu wachen. Und das scheint mir nicht so zu sein. Der ist ja schon eingeklemmt in diesen Job gekommen. Vielleicht will er nur gut überwintern. Immerhin hat er bei der WM nicht so peinlich und verlogen gejubelt wie Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Sie nehmen Merkel ihre Fußballbegeisterung nicht ab? Dabei jubelt sie doch so naiv aus frohem Mädchenherzen!

Auch das geht mir auf die Nerven – das frohe Mädchenherz. Wobei ich ganz genau weiß, dass sie eine Raffinierte ist. Sie sollte sich besser so intrigant zeigen, wie sie sein kann. Das würde mich auch überzeugen. Ich meine, wie werde ich denn Kanzlerin in diesem Land der Männer? Das kann ich doch nur durch besonders intrigante Fähigkeiten. Aber sie hat durchaus ihre anmutigen Phasen, so ist es nicht.

Was hat Sie denn zuletzt bei Ihrem alten Arbeitgeber im Fernsehen geärgert?

Den Verschiebebahnhof mit Herrn Jauch, den finde ich nahezu komisch. Durch Jauch verschiebt sich die Sendezeit von fünf anderen Talk-Kollegen! Wäre ich Jauch, hätte ich schwere Stunden, nachts könnte ich nicht schlafen. Was, um Gottes Willen, sollte ich ihnen denn Neues machen? Der kann ja auch nur Fragen stellen. Die erwarten aber Wunderdinge von ihm.

Und er bringt das Gehaltsgefüge durcheinander.

Komischer aber finde ich jetzt die „Enttarnung“ der Intendantengehälter. Wer es wissen wollte, konnte es immer wissen.

Finden Sie 310000 Euro für die WDR-Intendantin ungerecht?

Ich habe gegen die Gehälter nichts einzuwenden. Etwas merkwürdiger scheint mir der Vergleich zu Ministergehältern, beispielsweise. Selbst die Merkel verdient ja weniger als der Herr Gruber vom Bayerischen Rundfunk.

Ein durchs Fernsehen sehr populär gewordener Kabarettist kann es mit 15 Festzeltauftritten im Sommer auf das Jahresgehalt der Kanzlerin bringen.

15 sind ein bisschen wenig. Außerdem arbeitet der ja das ganze Jahr am Programm. Dass er dann so viel wie sein Intendant verdient, ist ganz klar, aber er hat ja auch keine Pension.

Während der Intendant mit 70 Prozent seiner Bezüge in Rente geht.

Das ist sehr niedrig geschätzt. Ich habe mir mal vorgestellt, alle nicht mehr beschäftigten Intendanten und Programmdirektoren der öffentlich-rechtlichen Sender gingen auf dem Kurfürstendamm spazieren. Da könnte kein Auto mehr fahren. Ein Kabarettist aber, den das Fernsehen nicht mehr für vorzeigenswert hält, verliert sehr viel.

Sie haben sich vor Monaten zu Ihrer Alkoholsucht bekannt – und mit dem Trinken aufgehört.

Jetzt habe ich viel mehr Energie und arbeite länger. Ob das auch effektiver ist, weiß ich noch nicht. Aber ich wollte meine letzten Berufsjahre ganz wach sein und den Altersabbau stoppen. Das ist mir gelungen – vorläufig.

Kein Glas Rotwein nach der gelungenen Premiere?

Nein, gar nichts. Inzwischen schmecken andere Getränke auch ganz gut. Und Apfelsaft sieht ja fast aus wie Wein.

Volker Isfort

Lach & Schieß, bis 29. 8., Tel. 39 19 97, Restkarten, weitere Termine im Herbst

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