Die zweite Chance
Der geigende Frauenschwarm David Garrett schillert zwischen Klassik und Pop. Er schafft den „Hummelflug“ in rekordverdächtigen 65,26 Sekunden, hat aber sein schnelles Leben mittlerweile etwas abgebremst
Endstation Sehnsucht? David hatte sich verfahren. Festgefahren am Ende, und in einer Sackgasse gelandet. Dabei war da am Anfang ein großer Aufbruch gewesen. Vielleicht auch ein Ausbruch, auf jeden Fall der Sprung ins pralle Leben. Ein Leben in den Tag hinein, vor allem aber in die Nächte. Mitten in London. Touren durch die angesagten Clubs, Musik von Jazz bis TripHop (nur keine Klassik!), Kumpels aus fremden Welten, Frauen, Alkohol, Designer-Drogen. Dann plötzlich der Tod eines engen Freundes. Kreislaufkollaps, Exitus. Eine Überdosis. Und auf einmal spürte der 18-Jährige die Angst: Ist das jetzt auch dein Weg? Hattest du früher nicht von einem anderen Leben geträumt? Die Geige, die war doch eigentlich dein Ding gewesen. Und plötzlich wollte er nur noch weg hier. Sehnte sich zurück auf die Konzertpodien und träumte vom Applaus...
Schnitt. Vergangenheit. Nein, diese Episode taucht in der Biografie David Garretts heute nicht mehr auf. Würde sich vermutlich auch nicht mehr so gut verkaufen, diese Geschichte seines "exzesshaften" Ausbruchs: Denn im konservativen Klassikgeschäft sind unangepasste Rebellen nicht wirklich gefragt. Selbst im Fall des Pop-Paganinis mit dem Lagerfeld-Zopf, der wahlweise als "bestaussehender" oder "schnellster Geiger der Welt" (den "Hummelflug" in 65,26 Sekunden) annonciert wird. Stattdessen pflegt der groß gewachsene, attraktive Twen, der seinen durchtrainierten Körper auf Fotos wie im Konzert gern zur Schau trägt, heute das Image des Künstlers, der nach anderthalb entbehrungsreichen Jahrzehnten als Wunderkind mit aufoktroyierten Erscheinungsbildern seine Karriere nun selbst gestaltet.
Vom Wunder- zum Schmerzenskind
Denn die erste Geige hatte David bereits mit vier Jahren in die Hand genommen, mit zehn gab er unter Gerd Albrecht sein Konzertdebüt mit den Hamburger Philharmonikern, schloss 1994 als jüngster Solist aller Zeiten einen Exklusivvertrag mit der Deutschen Grammophon. Italien-Tournee mit Abbado, Auftritte in ganz Europa und Japan, mit Mehta, Eschenbach und Sinopoli, schließlich mit 15 Jahren die Einspielung der höllisch schweren Paganini-Capricen. Als jüngster Künstler in der Platten-Geschichte - danach ging nichts mehr. Der Teenie-Körper streikte, Bandscheibenvorfall, Tennisarm, ein eingeklemmter Wirbel und eine über Jahre "antrainierte" Fehlhaltung: Schier "unerträglich" waren die Schmerzen in der linken (Griff-)Hand zuletzt gewesen - erwachsen aus sieben Stunden Üben am Tag und bis zu 80 Konzerten im Jahr. Ein physischer (Leidens-)Druck, den der damals 17-Jährige einfach nicht länger aushalten wollte.
Nachdem Bayern-Doc Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt dafür gesorgt hatte, dass Garrett wieder beschwerdefrei aufspielen konnte, ging der gebürtige Aachener nach New York. Löste sich von seinen Eltern und begann an der Juilliard School zu studieren. Nahm Unterricht bei den besten Lehrern, die sich ein Geigen-Schüler vorstellen konnte: Isaac Stern, Itzak Perlman, Dorothy Delay. Stunden bei Ida Haendel und Zakhar Bron in Europa schlossen sich an. Nur konzertieren mochte der Deutsch-Amerikaner nicht mehr - und als der einstige Star wieder mochte, wollten ihn die anderen nicht mehr. Veranstalter, Konzertagenturen, Plattenfirmen. Der Geiger Garrett sei durch... Doch statt in ein tiefes Loch zu fallen, kämpfte Garrett. Und fand den Weg zurück aus Manhattans U-Bahn-Schächten in die Konzertsäle. Erst in den USA, dann in Asien, am Ende auch in Deutschland.
Mit dem Nietengürtel unterwegs
Dass er dabei mit allen Mitteln kämpft, die Inszenierungs-Erfahrungen seiner Model-Zeit ebenso zu nutzen weiß wie TV-Auftritte bei Stefan Raab, stößt manchem Klassik-Puristen mindestens so auf wie der Event-Charakter seiner Hallen-Tourneen mit Orchester und Band: Tausende von Zuschauern, kreisende Scheinwerfer und Teenie-Gekreische wie bei Boy Bands, wenn sich David in Jeans, Nietengürtel und Sakko, schwerer Kette samt Kreuz und schwarzem Hut durch die Arenen fiedelt mit einem Programm, dass Michael Jacksons "Smooth Criminal" mit Klassik Radio-kompatiblen Eigenkompositionen und einem zum Violinkonzert aufgedonnerten Arrangement von Bachs "Air" verbindet.
Doch der heute 28-Jährige kennt keine Berührungsängste: "Das ist eine ganz lockere Veranstaltung mit einer ziemlich bunten Mischung", pflegt der schöne junge Mann mit dem lasziven Blick sein Publikum zu begrüßen. Und überhaupt: Habe nicht auch schon Jascha Heifetz Stücke mit Bing Crosby eingespielt? Am Ende zähle doch, dass viele junge Menschen in seine Konzerte kämen und sich für klassische Musik begeisterten. So wie seine Freunde in New York, die nach einem nächtlichen Streifzug durch die Clubszene ihn bei der Rückkehr morgens um vier bitten würden, noch mal seine "San Lorenzo"-Stradivari auszupacken - "meistens improvisiere ich dann etwas..."
Er will ins Feuilleton
Ob das am Ende reicht, auch unter den Ohren der gestrengen Kritiker Gnade zu finden? Garrett müht sich mit rein klassischen Programmen wie jetzt in München mit den Wiener Symphonikern unter Philippe Jordan um die Rückkehr in die Feuilletons - und gibt sich doch im selben Moment trotzig und schwärmt von seinen Crossover-Projekten als Brücke zur Klassik für die Massen. Sein Erfolgsgeheimnis? "Mein Perfektionswahn ist einer gewissen Gelassenheit gewichen, und ich habe über das Herz einen neuen Zugang zur Musik gefunden." Der diesmal nicht in einer Sackgasse enden soll. Denn noch eine Chance für eine neue Biografie wird auch der schönste Geiger der Welt nicht bekommen.
Christoph Forsthoff
Gasteig, Philharmonie, 22.12. 2009 und 24. 1. 2010 ausverkauft. Am 20. und 21. 11. 2010 spielt Garrett in der Olympiahalle, Karten Tel.0180 / 54818181