"Die Zeit der Verluste" von Daniel Schreiber

Den Tod betrauern in Venedig: Unterhaltsam und auch ein bisschen tröstlich ist der neue Essay des Autors von ""
Michael Stadler |
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"Allein": Bestseller-Autor Daniel Schreiber.
Maurizio Gambari / Imago "Allein": Bestseller-Autor Daniel Schreiber.

Der Tod, nicht nur der eigene, ist etwas, was man gerne verdrängen möchte. Ja, am liebsten möchte man gar nichts von ihm hören. Der Prozess des Beiseiteschiebens findet in Daniel Schreibers neuem Buch ein anschauliches Bild im Nicht-Annehmen eines Telefonats. Kurz vor einer Lesung in Heidelberg versuchte ihn seine Mutter zu erreichen, die ihn sonst abends nie anruft. Schreiber ging nicht ans Telefon, zog die Lesung durch, signierte Bücher, ging mit den Veranstaltern essen, um erst spät nachts aus dem Hotel zurückzurufen und zu erfahren, was er schon geahnt hatte: Sein Vater war gestorben.

Private "Trauerabwehr" des Sohnes

"Die Zeit der Verluste" heißt Schreibers neuer Essay. Wie der Titel schon ahnen lässt, setzt sich der Journalist und Autor nicht nur mit seinem eigenen Verlust auseinander, sondern weitet seinen Blick auf unser Heute aus, in dem angesichts von Klimawandel, Pandemie, erstarkendem Rechtspopulismus und Kriegen bestimmte Gewissheiten abhandengekommen sind. Die gesellschaftliche Unfähigkeit, angesichts der vielen Toten zu trauern, spiegelt sich in der privaten "Trauerabwehr" des Sohnes wider.

Im Rahmen eines Stipendiums residiert Schreiber für zwei Winterwochen im Palazzo Barbarigo in Venedig, kommt morgens kaum aus dem Bett, um dann doch in der Stadt auf Tour zu gehen und gedanklich durch eigene Betrachtungen und die philosophischen Theorien anderer zu flanieren. Man mag sich zunächst wundern, dass er immer wieder in detaillierte Beschreibungen der gediegenen Innenräume des Palazzos und berühmten Museen Venedigs (mitsamt Gemälden) abdriftet. Aber im Verlauf des einen Tages, den er in seinem Buch schildert, wird schnell deutlich, dass sich Venedig als Stadt des Zerfalls hervorragend dazu eignet, über Verlusterfahrungen, Tod und Trauer zu reflektieren.

Wenn Schreiber in den Gassen Venedigs die Orientierung verliert, kann er das metaphorisch nutzen: "Manchmal muss man sich verlorengehen, denke ich, muss einräumen, dass man sich verlaufen hat. Manchmal lässt sich nur so die Möglichkeit erlangen, wieder zu sich zu finden."

Dankbarkeit ist es, was ihm immer bewusster wird

Nicht zufällig macht er einen Boots-Abstecher auf die Insel San Michele, wo sich gleich mehrere Friedhöfe befinden. Die "Toteninsel", durch Wassermengen vom lebendigen Treiben Venedigs getrennt, macht die Verdrängung der Vergänglichkeit anschaulich. Ähnlich stehen in Städten die Zentralfriedhöfe "für den vergeblichen Versuch, unser Leben frei vom Tod und von der ihm folgenden Trauer zu halten."

Der Tod fordert jedoch eine Auseinandersetzung ein. Trauer lässt sich nicht vermeiden und ist ein nicht enden wollender Prozess. Das, was Freud "Trauerarbeit" nennt, vollzieht Schreiber wohl zum Teil mit diesem Buch. Ähnlich wie in seinem Bestseller "Allein", in dem er sich mit der Einsamkeit, insbesondere während der Pandemie, auseinandersetzte, nimmt er sich eines Zeitgeist-Themas an, das auch ihn persönlich betrifft. Dazu hat er ausgiebige Recherchen betrieben, um nun im lockeren Essay-Stil die Werke anderer, darunter Roland Barthes und Judith Butler, zu streifen, dabei Schlagworte wie Jonathan Lears "radikale Hoffnung" prägnant zusammenzufassen und mit eigenen Anschauungen anzureichern.

Vor allem ist auch ein berührendes Porträt seines Vaters entstanden, der als Landwirt in Ostdeutschland hart arbeitete, eines Tages an Lungenkrebs erkrankte und dennoch mit seinem ungesunden Lebenswandel, inklusive Rauchen, nicht aufhören wollte. Der Sohn, der sich mit seiner Karriere als Schriftsteller vom Elternhaus, dem Leben auf dem Land und der damit verbundenen Schicht wegbewegte, zündet sich eine Zigarette nach der anderen an. Es wirkt fast todessehnsüchtig oder als ob er sich so mit seinem toten Vater nachträglich verbinden möchte. Neben seinem Rauch gibt es viel Nebel in Venedig, passend zur großen Ungewissheit, die all die Verluste mit sich bringen.

Der Tod und die Trauer zerreißen den Alltag, entziehen sich der Sprache - das entdeckt Schreiber nun aus erster Hand und freut sich dennoch über die Plattitüden, die er nach dem Tod seines Vaters von anderen zu hören bekommt.

Anstelle der richtigen Worte gibt es Trauerrituale, die je nach Kulturkreis unterschiedlich ausgeprägt sind, vom Zerreißen der Kleidung bis hin zum Läuten der Kirchenglocken. Was Schreiber jenseits der Sprache in Venedig immer wieder entdeckt, ist eine Schönheit, die ihn inspiriert und überwältigt. Das Wort "Dankbarkeit" fällt früh in dem Buch, gegen Ende gleich mehrfach.

Für was man alles dankbar sein kann: ein schönes Abendessen, die Zeit mit lieben Menschen, die Erinnerung an die Zeit, die man mit den einst Lebenden teilen durfte. Und vielleicht sollte man auch für die Trauer, den Schmerz und die Krise, in die sie einen stürzen, dankbar sein, überlegt sich Schreiber. In einer wissenschaftlichen Abhandlung wären solche und manch andere gefühlvollen Einsichten wohl fehl am Platz. Aber Schreiber hat ja auch einen Essay geschrieben, der frei assoziierend zwischen Sachbuch und privatem Erinnerungsbuch schwebt und dabei dankenswerterweise etwas Trost gibt.

Daniel Schreiber: "Die Zeit der Verluste" (Hanser Berlin, 144 Seiten, 22 Euro).

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