Die Wunderharfe lockt
Die Stadt erntet herbe Kritik wegen Christian Thielemanns Abschied, doch dieser soll schon lange mit der Staatskapelle Dresden flirten
In ein paar Monaten wird man klüger sein: Sollte Christian Thielemann zur Staatskapelle Dresden wechseln, hat er es in München absichtlich auf einen Rauswurf ankommen lassen, um nicht als Deserteur dazustehen. Dann wird keiner mehr auf den Mythos von der tölpelhaften Kulturpolitik der Stadtväter hereinfallen, der nun wieder durch die Köpfe geistert.
Der Kern des Bayreuther Festspielorchesters besteht aus 25 Dresdner Musikern. Sie umwerben Thielemann heftig. Die Staatskapelle ist bei Oper und Konzert gleichermaßen angesehen. Das muss Thielemann locken. Vakant wird das von Richard Wagner einst als „Wunderharfe“ gepriesene Orchester, wenn Fabio Luisi nach Zürich wechselt. Um sein Nachfolger zu werden, hätte Thielemann den Münchner Vertrag brechen müssen: Zwei Chefpositionen wollte er im Unterschied zu vielen Kollegen noch nie übernehmen.
Zerbrochenes Porzellan klebt schlecht
Wenn’s anders kommt, behalten die Kritiker des Stadtrats recht. Wer nun wie Dieter Borchmeyer namens der Akademie der Schönen Künste neue Verhandlungen mit Thielemann fordert, übersieht eines: Nach derlei Machtproben wird eine gedeihliche Zusammenarbeit schwierig. Auch im Orchester scheint der Generalmusikdirektor zuletzt viel Porzellan zerschlagen zu haben: Es fällt auf, dass vor der entscheidenden Sitzung des Stadtrats dramatische Aufrufe seitens der Musiker nicht öffentlich wurden.
Wahr bleibt auch, dass Thielemanns Vetorecht über Programm und Dirigenten der 60 von ihm nicht geleiteten Konzerte die Planung erschwerte. Man kann nicht die absolute Macht eines Generalmusikdirektors verlangen, das Tagesgeschäft aber anderen überlassen und sie ohne Entscheidungsbefugnis im Regen stehen lassen. Dergleichen können nur Genießer als kleinkariert abtun, die ein Thielemann-Abo besitzen und den im Vergleich zur Konkurrenz grauen Alltag nicht erleben.
Jede Krise ist eine Chance
Thielemann hat gewiss, wie Borchmeyer in seinem Protestbrief schreibt, „die Philharmoniker an die Spitze der weltbesten Orchester herangeführt“. Das ist im Wortlaut richtig: Herangeführt hat er sie, aber in der Champions League spielt seit vielen Jahren nur das BR-Symphonieorchester. Von der Brillanz, Neugierde und stilistischen Vielfalt der Berliner Philharmoniker sind alle hiesigen Orchester meilenweit entfernt. Und wer einmal ein japanisches Plakat gesehen hat, sieht an der Größe der Schriftzeichen, dass das Orchester der Stadt allein wegen des Chefs in die Ferne gebeten wird.
Natürlich ist Thielemanns Nichtverlängerung ein herber Verlust. Der vorgestern noch so kecke Stadtrat könnte bald vor Angst mit den Zähnen klappern, wenn die philharmonischen Abonnenten in Scharen davonlaufen. Zurückholen lässt sich Thielemann höchstens, wenn es mit Dresden nichts wird. Ohne ihn besteht aber die Chance, dass sich das bockbeinige Orchester endlich davon verabschiedet, sein Klangideal und Repertoire aus der Celibidache-Zeit zu konservieren. Das wird nicht leicht, aber es wäre möglich, dass die Philharmoniker mit einem neuen Profil endlich die Weltspitze erreichen, zu der sie so gern gehören möchten.
Robert Braunmüller
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