Die vergessene Hochkultur

Zwölf Widderstatuen säumen den Weg zum Amun-Tempel. Und das ist nur ein Detail der alten Pracht Nagas - 40 Kilometer vom Nil entfernt, im heutigen Sudan. Was hat die Könige von Meroe angetrieben, mitten in der Steppe eine solche Luxusresidenz zu bauen? Und weshalb ging das Reich im vierten Jahrhundert nach Christus unter? Ein Ägyptologenteam aus München erforscht die Tempelstadt, die in weiten Teilen noch unter der Erde liegt. Die AZ hat mit Projektleiter Arnulf Schlüter über diesen antiken Schmelztiegel gesprochen.
AZ: Herr Schlüter, die Temperaturen liegen noch unter 30 Grad, müssten Sie jetzt nicht im Sudan sein?
ARNULF SCHLÜTER: Ja, für unsere Grabungen wären das Wetter ideal. Allerdings hat der Sudan sehr hohe Corona-Fallzahlen. Wegen der Ausbreitung der Pandemie mussten wir letztes Frühjahr vorzeitig abbrechen, und dabei blieb es. Das ist betrüblich, auch für unsere sudanesischen Mitarbeiter, die neben ihrer Viehwirtschaft kaum Verdienstmöglichkeiten haben.
Naga ist bewacht
Wer kümmert sich jetzt um die Grabungsstätte?
An den Objekten wird nur gearbeitet, wenn wir unten sind. Unsere Mitarbeiter sehen immer mal nach dem Rechten, wenn sie nach Naga kommen. Im Zentrum gibt es einen 80 Meter tiefen Brunnen, wo sie ihre Tiere tränken, und eine Polizeistation. Naga ist also bewacht. Zur nächsten großen Ortschaft fährt man anderthalb Stunden. Dass man nicht so leicht nach Naga gelangt, ist in diesem Fall sicher von Vorteil.
Ist das Königreich von Meroe deshalb so wenig bekannt und fast unberührt?
Dort wurde seit dem Untergang nicht mehr gesiedelt, kein Ackerbau betrieben. Es liegt alles so im Sand, wie es vor fast 1800 Jahren verlassen wurde. Als man 1995 mit den Grabungen begonnen hat, standen die Objekte teils noch auf den Altären. Für Archäologen ist das ein Traum.
Wie so oft wurde auch Naga von neugierigen Europäern entdeckt.
Der Bevölkerung vor Ort war aber bekannt, dass da etwas liegt. Grabungen gehören im Sudan aber nicht zum Dringlichsten.
Wie steht die Bevölkerung zu Ihrer Arbeit?
Die Sudanesen haben ziemlich großes Interesse an den Grabungen, und zwar die lokale Bevölkerung wie die staatliche Seite. Meinem Vorgänger Dietrich Wildung wurden die Ausgrabungen vom Chef der sudanesischen Altertümerverwaltung angeboten. Natürlich will man im Sudan zeigen, auf welche wunderbare Kultur man zurückblicken kann.
Finanzierung der Grabungen
Wie finanzieren Sie die Grabungen?
Durch Drittmittel. Das war lange die Deutsche Forschungsgesellschaft, für die Restaurierungsarbeiten kommt das Auswärtige Amt auf. Auch das Quatar-Sudan Archaeological Project hat mitfinanziert. Es fließen jedenfalls keine Gelder aus dem Museum Ägyptischer Kunst in München hinein.
Und was passiert mit den Fundstücken?
Sie gehören selbstverständlich dem Sudan. Wir nehmen nichts mit und erwerben auch nichts. Allerdings werden uns Leihgaben zur Verfügung gestellt. Deshalb können wir hier in München die Kultur aus Naga mit echten Höhepunkten vorstellen. Die Eigentumsverhältnisse sind vertraglich klar geregelt, genauso die Leihgaben, und genau so muss es sein.
Das war nicht immer so.
Und das beschert heute auch eine Reihe von Problemen. Die europäischen "Schatzsucher" haben zum Teil beherzt zugegriffen, die Einstellung war damals eine ganz andere. Auch von den Ägyptern selbst sind vor 150 und noch vor 100 Jahren völlig legal Antiken verkauft oder als Staatsgeschenke außer Landes gegeben worden. Das ist seit etwa 40 Jahren endlich verboten.
Unterschiedliche Stile in den Tempeln von Naga
Man sieht an den Tempeln in Naga völlig unterschiedliche Stile. Wie kommt das?
Es sind im Wesentlichen drei Kulturkreise, die in Meroe aufeinandertreffen: die Mittelmeerwelt mit Griechen und Römern, das klassisch Ägyptische, und dann gibt es gerade in der Stilistik afrikanische Einflüsse. Man wollte zeigen, welchen Horizont man hat, wie weltgewandt man ist, was man alles kennt und umsetzen kann. Von Afrika herkommend ist Naga das Eintrittstor in die Mittelmeerwelt und nach Ägypten. Diese Kultur ist auch von großem Selbstbewusstsein geprägt.
Kann man von einem Schmelztiegel der antiken Welt sprechen?
Mit Sicherheit. In Naga ist kein Tempel wie der andere. Auch die Ausstattung der Bauten zeigt ein Nebeneinander verschiedener Kulturen. In Meroe gab es zum Beispiel römische Bäder, die als luxuriös galten. Das geht durch alle Bereiche. Einerseits hat man eigene Götter, die es nur in Meroe gibt, andererseits verehrt man auch ägyptische Götter. In dieser Mischung unterschiedlichster Einflüsse kommt es zu einer ganz eigenen außergewöhnlichen Kulturleistung.
Das klingt auch nach Reichtum und Wohlstand.
Auf jeden Fall. Und Naga hat noch die Besonderheit, dass wir bisher keine Wohnhäuser, sondern ausschließlich Tempel- und Verwaltungsbauten sowie palastartige Anlagen gefunden haben. Das mag daran liegen, dass sich die einfachen Hütten nicht erhalten haben. Dass Menschen dort auch gelebt haben, beweisen die Nekropolen mit vielen Hunderten Gräbern. Vielleicht war Naga eine Pfalz oder Subresidenz für die Könige aus Meroe. Möglich wäre auch, dass Naga als strategisch wichtiger Punkt an einer Handelsroute lag. Wir befinden uns 40 Kilometer vom Nil entfernt, einfach so gründet man in der Pampa keine Stadt.
Tierdarstellungen und hervorgehobene Frauen
Es gibt imposante Tierdarstellungen, in den Bildprogrammen fallen aber auch besonders hervorgehobene Frauen auf. Wie ist das zu deuten?
Die Königin war dem König gleichgestellt, und die Herrschaft wurde über die Linie der Mütter weitergegeben. Wir kennen sowohl den Titel einer Königsgemahlin als auch der Königsmutter. Wenn man zum Beispiel in Ägypten den König als großen Kriegsherrn beim Erschlagen der Feinde darstellt, ist es in Naga der König mit seiner Königin.
Kann man denn die Sprache mittlerweile entschlüsseln?
Man kann sie lesen, man weiß, wie einzelne Zeichen ausgesprochen wurden und kennt auch einige wichtige Begriffe wie Götter- und Ortsnamen. Aber wir sind immer noch nicht in der Lage, längere historische Texte zu übersetzen. Es gibt nicht allzu viele Forscher, die sich mit dem Meroitischen beschäftigen.
Warum haben die Menschen Naga so plötzlich verlassen?
Es gibt allerlei Theorien, etwa dass einwandernde Gruppen die Meroiten vertrieben oder sich assimiliert haben und sich die Kultur irgendwann im Wüstensand verlaufen hat. In Naga muss das relativ zügig gegangen sein. Der Amun-Tempel ist zum Beispiel ausgebrannt. Da blieb alles stehen, wie es war. Entweder es gab eine Flucht oder eine große Trockenperiode, die die Menschen gezwungen hat abzuwandern. Das können wir durch unsere Arbeit hoffentlich irgendwann klären.
Modernste Hightech-Archäologie in Naga
Sie graben wie vor 200 Jahren, aber Sie betreiben in Naga auch modernste Hightech-Archäologie.
Wir sitzen wirklich mit Schäufelchen und Pinselchen und legen vorsichtig frei. Mit Maschinen kann man nicht aufs Antikengelände fahren. Aber bei der Dokumentation hat sich viel verändert. Wir nehmen Kleinfunde, Statuen, aber auch Architekturblöcke und ganze Gebäude mit dem Streiflichtscanner auf, machen daraus 3-D-Modelle und können dann virtuell sehr präzise rekonstruieren. Und mit einer Drohne wird das Grabungsareal von oben exakt aufgezeichnet. In puncto Hightech nimmt das Naga-Projekt sicher eine Vorreiterrolle ein.
Wie viele Jahrzehnte könnten die Grabungen noch andauern.
Wir haben Dutzende von Gebäudegrundrissen bereits aufgenommen, ohne richtig zu graben. Und das betrifft erst das innere Stadtgebiet. Man kann sicher die nächsten 100 Jahre hier arbeiten. Die Nekropolenareale sind noch überhaupt nicht untersucht. Dafür brauchen wir weitere Fachleute wie Anthropologen.
Aber würde das nicht entscheidende Informationen über das Leben der Menschen in Meroe liefern?
In Naga selbst sind in den 60er, 70er Jahren ein, zwei Gräber geöffnet worden, aber ohne großflächige Untersuchungen. Das gehört für die nächsten Jahre auf unsere Liste, doch dieses Thema ist sensibel. Was geschieht mit den menschlichen Überresten, wenn wir Gräber öffnen? In Naga existieren bislang keine größeren Lagermöglichkeiten. Wir hoffen auf ein Museum mit entsprechenden Magazinräumen.
David Chipperfield hat Ihnen Entwürfe für ein Museum geschenkt. Wie kann das an einem so abgeschiedenen Ort funktionieren?
Das soll ein geschützter Ort für Statuen, Tempelwände und dergleichen sein, der im Wesentlichen ohne Personal auskommen muss. Es geht darum, diese reichen Funde den Sudanesen und wenigen Touristen zu zeigen. Aber das Ganze wartet noch auf eine Finanzierung.
Ist Tourismus dort wirklich wünschenswert?
Sehr sogar, aber nur, wenn es ein behutsamer Tourismus ist, der sich mit Naga verträgt. Ein großes Rasthaus mit Kiosk, Sonnenterrasse und Toiletten hinzubauen, würde dieses einzigartige Kulturdenkmal zerstören. So verrückt kann man nicht sein.