Die Vergangenheit wehrt sich!
Nicht weniger als die Welt zu verändern, das ist Jake Eppings Aufgabe. Drei Schüsse soll er verhindern. Jene drei, die am 22. November 1963 US-Präsident John F. Kennedy in Dallas töten. In seinem neuen Roman wendet sich Stephen King von seinen üblichen Horrorgebaren ab. Dennoch ist „Der Anschlag” ein Krimi, der einen schon nach wenigen Seiten gefangen hält.
Der Literatur-Lehrer Jake Epping weiß nicht mehr über den Mord an JFK als das, was ihm der Hollywood-Streifen „Tatort Dallas” von Oliver Stone vermittelt hat. Als ein Bekannter ihm eine Treppe zeigt, die direkt ins Jahr 1958 führt, gibt es für Epping kein Zurück – genauso wenig für den Leser, der sich ab diesem Punkt unermüdlich durch die 1000 Seiten kämpft, um den Ausgang zu erfahren.
Epping soll das Attentat verhindern, soll den Attentäter Lee Harvey Oswald erst beschatten, dann töten, soll gar den Vietnam-Krieg im Keim ersticken. Ob die amerikanische Geschichte sich so wirklich zum Besseren wendet – das weiß keiner, Epping nicht, vielleicht ist sich nicht einmal King sicher.
Als Epping in der Vergangenheit aufschlägt, trinkt er erst einmal ein Root-Bier – ohne Geschmacksverstärker eine völlig neue Erfahrung. Die Vergangenheit ist sympatisch, niedlich, zum Wohlfühlen. Damals trug man noch keinen Rucksack, dafür Strohhut, das Abendessen samt Apfelkuchen kostete 95 Cent und am Flughafen musste man nicht durch einen Metalldetektor schreiten. Doch das Grausame wartet schon im ersten neuen Zuhause von Epping: Er hilft einem Bekannten aus seiner Gegenwart ein Massaker in dessen Kindheit zu überstehen. King packt einen und zieht den Leser in den Nebel von Furcht und Vergangenheit.
Denn die Zeit ist das eigentlich Böse in Stephen Kings Roman: Sie wehrt sich dagegen, geändert zu werden und fällt Epping immer wieder an. Mal ist es nur ein geplatzter Reifen, der das Weiterkommen verhindert, mal eine Magendarm-Grippe. Doch je dichter Epping an sein Ziel heranrückt, desto hinterlistiger wird die Vergangenheit und arbeitet gegen ihn: Die Orte sind grimmig und abweisend, schließlich fallen rachsüchtige Nachbarn über ihn her, die Zeit zerstört sogar eine Liebschaft und greift langsam auf den Geisteszustand der Hauptfigur über.
Hier wird das Buch zum typischen King: Der Feind ist das Normale, das uns umgibt. Wie die Zeit, der eigene Geist oder eben manchmal die Vernunft. Es ist der Abgrund, der in einem selbst schlummert, den King wie kein anderer zwischen seinen Zeilen hervorlockt. Kings Buch ist ein Zeitreise-Roman, aber einer, der sich nicht mit Details aufhält. Der Schmetterlingseffekt ist ein Bestandteil, aber wird nicht physikalisch oder gar logisch erörtert.
Das wäre King selbst sicher auch zu langweilig, doch es macht die Geschichte auch glaubwürdig. Die Zeit-Treppe stellt der Leser ebenso wenig in Frage, wie die Zufälle, die Jake Epping widerfahren. Und die nur einem dienen: die Hauptfigur langsam mürbe zu machen. So liest man und wartet, dass Horrorfiguren auftauchen. Doch King beherrscht sich und wandert auf dem schmalen Grat: Jake Epping wird zum Mörder aus Vernunft – und das ist das Unheimlichste an der Geschichte.
Stephen King: „Der Anschlag” (Heyne, 1050 S., 26.99 Euro)
- Themen:
- Mörder
- Präsidenten der USA