Die Unvollendete

„The Smile Sessions” der Beach Boys zeigt, wie eine der größten Platten des Pop hätte klingen können
Christian Jooß |
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Der Wahnsinn tönt so schön. Will man die Gesänge der Sirenen ahnen, man höre „Our Prayer”. Vokalharmonien schichten sich, bis keine Auflösung mehr möglich scheint. Heute erlebt man die Originalaufnahmen der Musik, über die Brian Wilson zerbrach und lange Jahre seinen Verstand verlor. Erstmals erschienen sind „The Smile Sessions”. Die hier besprochene Ausgabe auf einer CD, ist die einfachste der drei erhältlichen. Mit dem Box-Set bekommt man noch mehr Möglichkeiten, wie ein Album hätte klingen können, das vielleicht sogar „Sgt. Pepper” zur psychedelischen Spielerei degradiert hätte.

1966 war es. Die Beach Boys hatten „Pet Sounds” veröffentlich. Und ihr Image von naiven Surfburschen zu einer berückend eigenartigen Harmoniecombo geöffnet. Brian Wilson, von Geburt an auf einem Ohr taub, vom Vater zum Pop geknechtet, hatte sich drei Jahre zuvor wegen psychischer Probleme vom Tourleben der Band zurückgezogen und sich eingerichtet als kreatives Herz der Band, den die Außenwelt kaum noch berührte.

„Pet Sounds” war die richtige Richtung – nicht die Erfüllung. Die sollte mit „Smile” kommen. Brian stellte sein Klavier in einen Sandkasten, so dass er beim Komponieren ein Strandgefühl hatte, und begann mit Texter Van Dyke Parks mit der Arbeit. Was sein hätte können, ahnte die Welt im Herbst, als „Good Vibrations” veröffentlicht wurde. Ein Song, der mit jedem Hören seiner logischen Schönheit gegen die Unmöglichkeit gewinnt, aus dieser Fülle von Ideen überhaupt einen Popsong zu bauen. Vier Minuten, die zum größten Hit-Erfolg der Beach Boys wurden. Mit diesem Song lässt Wilson heute sein „Smile” enden.

Man ahnt, wie weit die Band da schon in unbekanntes Gebiet vorgedrungen war. Die Sessions entgleisten. Paul McCartney kam vorbei und biss für „Vege-Tables” in eine Sellerie. Wilson bestellte ein Symphonieorchester, das Feuerwehrhelme tragen sollte – und Van Dyke Parks verabschiedete sich. Als die Beatles „Sgt. Pepper” veröffentlichten, war „Smile” Geschichte. Manche Songs fanden sich später auf anderen Alben wieder.

Auch wenn Wilson 2004 „Smile” in einer neuen Einspielung veröffentlichte, die Originalbänder zeigen, was versucht wurde: ein babylonischer Turmbau. Verglichen damit, ist eine Neueinspielung reizlos wie ein Hightech-Wolkenkratzer. Studiostandard war ein Vierspurgerät. Allein die logistischen Überlegungen für eine solche Aufnahme waren gigantisch. „Heroes And Villains”: Orchester, Cembalo, A-Cappella-Momente, von Surf-Beat, Kammermusikpop zum Varieté-Sound – Größenwahnsinn und Füllhorn.

„Do You Like Worms (Roll Plymouth Rock)” spannt einen hüpfenden Bass vor ein bekifftes Cembalo. „Barnyard” ist eine Skizze zum Thema Landleben und Rock. Tierstimmen schwingen auf einer E-Gitarre und dem Beat einer offenen Snare-Drum. Psychedelischer Zeitgeschmack. Banjowestern mit Mundharmonika, inklusive Filmorchester ist „Cabine Essence”. Und dann bekommt man mit „My Only Sunshine” noch eine Vorstellung, was passiert, wenn sich auf Gras die Wahrnehmung verlangsamt, als würde die Drehzahl einer Platte heruntergesetzt.

Die Belastung für Wilson muss immens gewesen sein. Der, so erkennt man, setzt einen Song aus Musikmodulen zusammen. Was jetzt vorliegt, ist nur eine Variante. Dass die Aufnahmen in Mono sind, ist ästhetisch kein Manko, sondern eine abgenommene Entscheidung im niemals zu beschneidenden Spiel der Möglichkeiten.

The Beach Boys: „The Smile Session” (Capitol/EMI)

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