Die unheimlichen Zeugen
Wie es dazu kommen konnte, dass ein britischer Verleger in Deutschland Zeitungen aus der Nazi-Zeit vertreibt – und nun mit Bayern im Clinch liegt
Der Reiz des Verbotenen ist unwiderstehlich – aber dieser Fall ist viel komplizierter. Polizei und Justiz beschlagnahmten auch gestern wieder an den Kiosken Teile einer Publikation, die von einer Reihe renommierter Historiker unterstützt wird und deren Verleger beteuert, nur Aufklärung und Information im Sinn zu haben. Ein „Angriff auf die Pressefreiheit“, schimpft seine Chefredakteurin Sandra Paweronschitz und kündigt Rechtsmittel an. Oder ist es doch ein sinnvoller Eingriff, weil die „bewusste Provokation“ von „Neonazis missbraucht“ werden kann, wie Bayerns Justizministerin Beate Merk feststellt?
Was bisher geschah: Der britische Verleger Peter McGee betreibt ein Projekt, bei dem Zeitungen und andere Publikationen aus der Zeit des Nationalsozialismus als Faksimile nachgedruckt und – deklariert als historische Dokumente – im großen Stil auf den aktuellen Pressemarkt gebracht werden. In mehreren europäischen Ländern blieb dies unbeanstandet. Seit Januar ist McGee mit den „Zeitungszeugen“ auch in Deutschland, wo beim Thema Nationalsozialismus aus gutem Grund besonders sensibel verfahren wird.
Mehr als 200000 Stück verkauft
So war der Weg zur Eskalation vorzeichnet: Als der zweiten Ausgabe des Heftes unter anderem ein Nachdruck der NS-Parteizeitung „Völkischer Beobachter“ und ein Nazi-Plakat zum Reichstagsbrand von 1933 („Zerschmettert die Sozialdemokratie! Wählt Hitler Liste1“ plus Hakenkreuz) beilag, schritt der Staatsanwalt ein und begann Ermittlungen wegen der „Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen“ und „Urheberrechtsverstößen“.
Die bayerische Staatsregierung, die in Deutschland seit Kriegsende einen Großteil der Urheberrechte von Publikationen aus der NS-Zeit verwaltet, ließ die Beilagen der Hefte beschlagnahmen – soweit das überhaupt möglich war: Das Justizministerium bilanzierte gestern auf AZ-Anfrage, es seien in Bayern bislang 3258 Exemplare wieder eingesammelt worden. Die Redaktion der „Zeitungszeugen“ vermeldete, von 300000 Stück der Startauflage seien bundesweit längst mehr als 200000 verkauft. Beim AZ-Test an einem Kiosk in der Münchner Innenstadt war das Heft gestern inklusive aller Nazi-Propaganda ohne Umstände erhältlich.
Tatsächlich ist es in diesem Fall so, dass das Nazi-Material nicht unkommentiert verbreitet wird. Im Begleitheft werden erklärende Texte mitgeliefert, zum Beraterkreis der Redaktion gehören wissenschaftliche Kapazitäten wie Historiker Hans Mommsen und Antisemitismusforscher Wolfgang Benz. Sogar die langjährige Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau, Barbara Distel, hat sich für „Zeitungszeugen“ einspannen lassen.
Reißerischer Ton
Doch schon die etwas genauere Betrachtung der Äußerungen der „Zeitungszeugen“-Chefredakteurin macht den Zwiespalt dieser kommerziellen Ausschlachtung von NS-Material deutlich. Da schreibt sie auf der Webseite, das Projekt bringe „jene Informationen nahe, mit denen die damalige Bevölkerung konfrontiert wurde“, offenbar ohne zu bemerken, dass „Information“ in diesem Zusammenhang fatal haltungslos ist. Und dem „Tagesspiegel“ sagte sie, dass „historische Zeitungen auf dieselbe Art gelesen werden sollen wie schon 1933“ – und so die Frage aufwirft, wer wirklich den „Völkischen Beobachter“ mit demselben Blick „wie 1933“ lesen möchte. Dazu kommt, dass die „Zeitungszeugen“ von einer TV-Werbekampagne begleitet werden, deren reißerischer Ton an Reklame für einen Action-Thriller erinnert.
Charlotte Knobloch, Präsidentin des Zentralrats der Juden, bringt es auf den Punkt: Niemand wolle Forschung verhindern, aber hier sei ein Herausgeber am Werk, der „trotzig jede sachliche Kritik an der Umsetzung seines Projekts rechthaberisch ignoriert“. Und Udo Wengst, stellvertretender Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München – Berlin, sagte der AZ, die „Zeitungszeugen“ schadeten eher einer ernsthaften Forschung an Publikationen aus der NS-Zeit. Wengst: „Es ist keine kritische Zugänglichmachung von Quellen, wenn man einfach irgendwelche Zeitungen unters Volk wirft.“
Michael Grill