Kritik

Die Ulbricht-Biografie von Ilko-Sascha Kowalczuk

Der erste Band erzählt vom Leben des DDR-Machthabers bis 1945
Robert Braunmüller
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Walter Ulbrichts Mitgliedskarte für das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Deutschlands.
picture alliance / Christian Charisius/dpa 6 Walter Ulbrichts Mitgliedskarte für das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Deutschlands.
Ulbricht (rechts) 1949 bei einer Feier zum 71. Geburtstag von Josef Stalin (Mitte), links Mao und der damalige russische Verteidigungsminister Bulganin.
Wikimedia Commons 6 Ulbricht (rechts) 1949 bei einer Feier zum 71. Geburtstag von Josef Stalin (Mitte), links Mao und der damalige russische Verteidigungsminister Bulganin.
Nikita Chruschtschow, Walter Ulbricht (Mitte) und Otto Grotewohl 1958 in Berlin.
picture-alliance/ dpa 6 Nikita Chruschtschow, Walter Ulbricht (Mitte) und Otto Grotewohl 1958 in Berlin.
Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk
picture alliance / dpa 6 Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk
Walter Ulbricht als Redner 1931 auf einer Kundgebung, links Joseph Goebbels.
Wikimedia 6 Walter Ulbricht als Redner 1931 auf einer Kundgebung, links Joseph Goebbels.
Der erste Band der Biografie.
RBR 6 Der erste Band der Biografie.

Zuerst ein praktischer Hinweis. Wenn Sie den Umschlag des Buchs mit dem nachkolorierten Porträt und dem Untertitel "Der deutsche Kommunist" entfernen, sparen Sie sich beim Lesen in der U-Bahn eine Menge Kommentare Ihrer lieben Zeitgenossen, die sächselnd beteuern, keine Mauer errichten zu wollen oder Ihnen erklären, dass es eine Verschwendung von Lebenszeit sei, sich heutzutage mit dieser nun wirklich üblen Figur zu beschäftigen.

Der 1967 in Ost-Berlin geborene Historiker und DDR-Experte Ilko-Sascha Kowalczuk ist in diesem Punkt anderer Meinung: Er hat eine Menge Zeit investiert, die erste gründliche Biografie von Walter Ulbricht zu schreiben, der am 1. August 1973, von Erich Honecker entmachtet, im Gästehaus der Regierung der DDR am Döllnsee an den Folgen eines Schlaganfalls verstarb.


Auch wenn Ulbricht im Westen als Karikatur eines Funktionärs in Erinnerung geblieben ist, war er doch neben Hitler, Adenauer und Helmut Kohl einer der einflussreichsten deutschen Politiker des 20. Jahrhunderts. Denn bei seinem Tod deutete nichts darauf hin, dass der von ihm geschaffene Staat keine 20 Jahre später geräuschlos verschwinden würde, wie der Autor im Vorwort schreibt.

1006 Seiten ist der erste Band stark. Er reicht bis 1945, als die "Gruppe Ulbricht" aus dem Moskauer Exil mit einem amerikanischen Flugzeug über Minsk nach Deutschland flog, um dort einen kommunistischen Staat aufzubauen. Kowalczuk erzählt das Vorleben des nachmaligen DDR-Partei- und Staatschef sehr gründlich. Aber der Autor besitzt die Gabe, historische Zusammenhänge knapp und prägnant zusammenzufassen, dass sein Buch auch für interessierte Nicht-Historiker lesbar bleibt.


Die Einleitung denkt essayistisch über die Probleme des Biografischen nach - eine kritische Selbstreflexion, wie man sie in anderen Büchern dieser Form vermisst. Und über die Lebensgeschichte Ulbrichts hinaus informiert das Buch illusionslos über die Politik der deutschen Kommunisten im 20. Jahrhundert: Das ist eine eiskalte Dusche für alle, die dieser politischen Richtung allenfalls aus einer Brecht-Biografie kennen und ihr im Nachhinein einen humanen Idealismus zugestehen möchten.

Ulbricht las und schrieb viel. Er war längst nicht so ungebildet, wie seine Gegner behaupteten. Zu Intellektuellen und Literaten hielt er Distanz. Das hat mit dem Milieu zu tun, aus dem er stammte: Er wurde als Sohn eines Schneiders 1893 in Leipzig geboren. Im gleichen Haus hatte einige Jahre zuvor übrigens eine Zeitlang Gustav Mahler gewohnt.

Ulbricht lernte Möbelschreiner und kam früh mit dem sozialdemokratischen Milieu in Berührung. Als Geselle ging er, wie damals üblich, auf Wanderschaft. Auf dem Weg nach Italien scheint er kurz in Peißenberg und Garmisch gearbeitet zu haben. Man erfährt bei Kowalczuk sogar, dass Ulbricht laut einem Zeitzeugen auf dem Weg nach Mittenwald durch die Partnachklamm gewandert ist.

Das wirkt auf den ersten Blick widersinnig, ist aber tatsächlich der kürzeste Weg. Und das passt zu Ulbricht. Er arbeitete als Funktionär und Bürokrat so fleißig wie effizient. Alkohol vermied er so weit wie möglich, bis ins Alter versuchte er, sich durch Sport fit zu halten. Als man ihn im russischen Exil einmal mit dem Auto zu einer Schulung erwartete, hatte er die Strecke längst auf Skiern zurückgelegt.

Eine Rede des SPD-Vorsitzenden August Bebel in Leipzig politisierte den jungen Ulbricht. Im Juli 1914 demonstrierte er bei einem Gewerkschaftsfest gegen den drohenden Kriegsausbruch. Das sogenannte "Fronterlebnis" blieb ihm im Ersten Weltkrieg erspart: Er war hinter der Front im Osten und am Balkan eingesetzt und kurierte in Skopje lange eine Malaria-Infektion aus.

Nach Kriegsende schloss sich Ulbricht revolutionären Arbeitern in Leipzig an. Der Kompromisskurs der SPD mit den alten Eliten radikalisierte ihn. Ulbricht schloss sich der KPD an, die einen streng leninistischen Kurs verfolgte: Ihr Ziel war der von einer Parteielite geplante Putsch nach dem Vorbild der Bolschewiki, nicht die Durchsetzung politischer Ziele mit parlamentarischen Mitteln.

Eine unabhängige Politik der deutschen Kommunisten gab es kaum: Sie folgte stets Direktiven der 1919 von Lenin gegründeten Kommunistischen Internationale. UIbricht hielt dieser Linie bedingungslos die Treue.

1923 war er an einem gescheiterten Aufstand in Sachsen beteiligt. 1926 wurde Ulbricht in den dortigen Landtag gewählt, 1928 in den Reichstag. 1931 kam es zu einem legendären Rededuell mit Joseph Goebbels bei einer Kundgebung der Nazis im Saalbau Friedrichshain in Berlin, das laut der bürgerlichen Presse unentschieden und mit einer Saalschlacht endete.

Wer sich fragt, wie der eher schmächtige Ulbricht den Veranstaltungsort unverletzt verlassen konnte, für den hat Kowalczuk eine Antwort parat: Für die Sicherheit der Funktionäre sorgten Kampfsportler aus der Arbeiterbewegung. Und war Ulbricht, dessen hohe Stimme heute eher erheiternd wirkt, wirklich ein großer Redner? Das vielleicht nicht, aber auch kein schlechter, wenn man Tondokumente mit den erhaltenen Reden anderer Reichstagsabgeordneter vergleicht.


Die KPD war - neben der NSDAP - der kleinere Sargnagel der Weimarer Republik. Sie bekämpfte nicht gemeinsam mit anderen Linken die Rechten, sondern primär die SPD als "Sozialfaschisten". Die Bildung einer Koalitionsregierung zwischen den Nazis und den Nationalkonservativen im Januar 1933 überraschte die Kommunisten. Ulbricht wurde steckbrieflich gesucht, floh und ließ sich einen Kinnbart wachsen, den er ab da beibehielt.

Das konspirative Netz der KPD zerfiel bald, die Exil-Führung in Paris, Prag und Moskau zerfleischte sich in Intrigen und sektiererischen Richtungskämpfen, Verhandlungen mit der Exil-SPD und linken Intellektuellen über die Bildung einer "Volksfront" gegen Hitler scheiterten am Dogmatismus der Kommunisten.

Ulbricht lebte ab 1935 im legendären Moskauer Hotel Lux. Dann verdächtigten und verfolgten sich die Kommunisten selbst: Von den 4600 deutschen Parteimitgliedern, die 1936 in Russland lebten, waren zwei Jahre später nur noch 378 übrig. Unbedingte Treue zur Parteilinie half dabei nicht: Stalins Terror war, wie Kowalczuk nüchtern nachweisen kann, völlig irrational. Dass Ulbricht überlebte, war reiner Zufall. Selbst seine damalige Frau Lotte Kühn geriet in Verdacht und war zeitweise arbeitslos.

Der Hitler-Stalin-Pakt versetzte die deutschen Kommunisten in Ratlosigkeit, auf die sie mit Treue zur Parteilinie reagierten. Erst der deutsche Überfall auf die Sowjetunion gab Ulbricht eine neue Aufgabe: Er befragte deutsche Kriegsgefangene. Während der Schlacht um Stalingrad forderte er Wehrmachtsangehörige von einem Lautsprecherwagen aus zum Überlaufen auf - mit mäßigem Erfolg. Auch wenn die deutschen Kommunisten lange auf einen Aufstand gegen Hitler hofften, änderten sie langsam ihre Taktik: Nachkriegsdeutschland sollte von einer breiten antifaschistischen Koalition unter Einbeziehung des linken SPD-Flügels regiert werden - natürlich unter kommunistischer Führung. Über das "Nationalkomitee Freies Deutschland" versuchte Ulbricht, dafür unter den Gefangenen Verbündete zu finden.

Die Ermordung des Kommunistenführers Ernst Thälmann auf Hitlers Befehl im KZ Buchenwald und der plötzliche Tod seines innerparteilichen Konkurrenten Wilhelm Florin machte Ulbricht zur unumschränkten Führungsfigur. Der minder wichtige Herbert Wehner war schon 1941 ins neutrale Schweden gegangen, um eine Exil-Parteileitung aufzubauen und hatte sich dabei vom Kommunismus entfernt.

In Nazi-Deutschland überlebende Kommunisten spielten in Ulbrichts Plänen keine Rolle, den nach Westen Emigrierten traute die Moskauer Fraktion nicht. Die Aufteilung Deutschlands in Besatzungszonen musste Ulbricht noch widerstrebend verdauen, dann startete er in Richtung Berlin, um nach leninistischen Prinzipien und unter russischem Schutz die Macht zu übernehmen.


Damit endet der erste Band von Kowalczuks monumentaler Biografie, der zweite Band über Ulbrichts DDR wird im kommenden Jahr erscheinen. An dieser Biografie überzeugt der Versuch, die beschriebene Figur nicht von ihrem Ende, sondern aus der jeweiligen Gegenwart heraus zu verstehen. Der Autor verteidigt Ulbricht zwar bisweilen gegen allzu billige posthume Polemik, sympathisch wird die Figur trotzdem nicht.

Und es ist ein Vorzug, dass Kowalczuk Widersprüche offen stehen lässt - etwa zur Frage, wie gut Ulbrichts Russisch wirklich war. Die Gründlichkeit dieses Buchs ist jedenfalls mustergültig. Und hat man aus den Endnoten eines wissenschaftlichen Werks das Angebot vernommen, der Autor habe die Literaturliste zwar kürzen müssen, sei aber jederzeit bereit, fehlende Quellen auf Nachfrage zu liefern?

Ilko-Sascha Kowalczuk: "Walter Ulbricht" (C.H. Beck, 1006 Seiten, 58 Euro)

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