Die totale Emotion
Campino, Chef der Toten Hosen, über dasbrandneue Album „In aller Stille“ und ein alles beherrschendes Thema der Musik – die Liebe
Heute erscheint „In aller Stille“, das 12. Studioalbum der Toten Hosen, eine gar nicht leise Beschäftigung mit der wilden Welt der Emotionen zwischen Punk-Beziehungskrach und Balladen-Innigkeit. Campino singt nicht nur gerne über die Liebe, er spricht auch gerne über deren Facetten.
AZ: Warum hat das Thema Liebe im Pop so einen Stellenwert?
CAMPINO: Zu diesem Thema gibt es schon 20 Millionen Gedanken und Lieder, aber schon morgen könnte das beste Liebeslied geschrieben werden. Oder das schlimmste.
Kann man über Liebe besser singen als schreiben?
Musik ist totale Emotion und spricht wahrscheinlich dieselbe Gehirnhälfte an wie Verliebtsein. Ich hab erstmal nicht an Mann-Frau-Beziehungen gedacht, sondern an Liebe als Grundgefühl, als Zuneigung, als etwas Positives. Wir reden alle über Liebe, und jeder meint etwas anders.
Kann man Liebe lernen?
Jein. Man kann sich nicht antrainieren, etwas zu lieben, aber man kann lernen, die Liebe, die man hat, zu pflegen.
Ist die Arbeit an Liebe unterschätzt?
Da fragt man gerade den Richtigen! Das hat so viele Faktoren, warum Leute sich trennen. Uns wird in ständig in den Medien ein Anspruch suggeriert, den wir nicht halten können. Zum Begriff Traumpartner denkt man: Bin ich hier der einzige Arsch, der sich darüber streitet, wer von beiden jetzt zum Supermarkt latscht? Die Ratgeberkultur schafft Nervosität.
Sind Beziehungen viel individueller als Ratgeber uns glauben machen?
Es ist nicht so individuell wie wir meinen. Wir arbeiten alle nach relativ simplen Schemen, suchen den Fehler eher beim anderen. Es gehört Mut dazu, an sich selber Verhaltensmuster zu entdecken.
Fördert unsere Gesellschaft Egoisten?
Ich weiß nicht, ob das ein Gesellschaftsproblem ist. Man verliebt sich in jemanden, weil er so ist, wie er ist. Und kaum ist man zusammen, versucht man, den anderen zurechtzudrehen. Ich lebe gerade nicht in einer klassischen Familiensituation und bin trotzdem glücklich. Und frage mich: Sind es die moralischen Verhaltensregeln, die mir aufzudrängen wolen, dass ich als über 40-Jähriger einen Fehler gemacht haben muss, weil ich alleine bin.
Ihre Platte endet mit der Angst. Wie stark ist der Einfluss der Angst auf Liebe?
Ganz groß. Sich davon freizumachen, ist nicht einfach. Unsere Gesellschaft arbeitet mit Ängsten. Das ist vielschichtig und beginnt schon, wenn du eine Reklame für Anti-Aging-Paste siehst. Die Angst, schneller als andere zu altern, lässt dich eine Creme kaufen.
Sie singen über Datenschutz, die Erfassung von Personen.
Unter dem Deckmäntelchen der Terrorismusbekämpfung werden nur manchmal sinnvolle Maßnahmen ergriffen und jede Menge andere, die einfach Wahnsinn sind. Wir lassen das aus Angst zu, aus unkreten Gefühlen von Bedrohung.
Hat Individualität da noch eine Chance?
Bei all den Erfassungsversuchen des Innenministeriums oder der Werbung – am Ende kriegen sie uns doch nicht. Wir haben eine Entscheidungsfreiheit und sind keine Opfer. Wenn jemand über Werbung im Fernsehen jammert: Mein Gott, schalt doch um, schalt doch auf Arte!
Die Textzeile „Die letzte Schlacht gewinnen wir“ ist ein Rückgriff auf Ton Steine Scherben?
Sie bezieht sich nicht auf die. Aber ich kann ohne Abstriche sagen, dass ich Rio Reiser für einen großen Texter halte. Ton Steine Scherben hatten das Pech, etwas zwischen die Generationen gerutscht zu sein. Zu jung für die Hippies, zu alt für Punk. Rückblickend sind „Macht kaputt, was euch kaputtmacht“ oder „Keine Macht für Niemand“ so kämpferische Parolen, dass ich nicht weiß, ob wir es je geschafft haben, so fulminant auf dem Punkt zu sein.
Funktioniert eine Platte wie „Keine Macht für Niemand“ noch?
Da müssen Adressat und Absender stimmen. Ich darf das nicht mehr singen. Diese Texte stehen mir in meiner Position nicht zu.
Hat der späte Rio Politik und Privates in seinen Texten ideal verbunden?
Auf keinen Fall bewusst. Heute sind die Lager verschwommen. Das hat schon mit diesem perversen Ost-West-Gefühl zu tun. Dieses hämische Gelache, weil der Kommunismus zusammengebrochen ist, hat die Leute vergessen lassen, dass das eigene System auch nicht so toll ist.
Ist heute Beziehung selber die Keimzelle von Veränderung?
Vielleicht will man auch das, was man privat versaubeutelt hat, auf einer politischen Ebene besser machen. Mein Vater war politisch engagiert, hat eine Gewerkschaft gegründet, Bundesverdienstkreuz am Band, der ganze Scheiß – er war nicht viel zuhause.
„Die Bibelstunde ist okay“ lautet eine Textzeile. Bekommt man über Religion einen anderen Zugang zu Liebe?
Definitiv. Wenn es in der Religion um irgendetwas geht, dann ja wohl um Liebe. Ohne pathetisch klingen zu wollen: Liebe ist das große Thema. Wer sagt, dass es Liebe gibt, muss wissen, dass auch ein Gegenpol da ist. Nur so ist es das Ganze. Wir erliegen oft genug bösen Versuchungen. Wie viel von unserem Leben möchten wir an negative Gedanken und Hass verschwenden? Manchmal ist Hass aber ein gutes Gefühl, wie ein hochgiftiges Medikament – man muss es nur schnell wieder absetzen können.
Ist Musik da immer noch ein Befreier?
Ein Befreier und Verstärker, auch mit Hass und Wut. Es ist ein Mittel, um auf eine leichte und sehr schöne Art an andere heranzukommen. Du kannst ein Bild nicht überall mit hinnehmen, aber die Musik kann theoretisch überall mit.
Christian Jooß
Die Toten Hosen: 27. Dezember, Olympiahalle, Karten: 33 Euro
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