Die tödliche Quizshow
Widerstand gegen die Medienfressmaschine: Das Residenz Theater zeigt Carlo Gozzis „Turandot“, bearbeitet von Friedrich Schiller
Bei „Turandot“ denkt jeder gleich an Kalafs Arie „Nessun dorma“, mit der ein Paul Potts vergeblich so zu glänzen versucht wie einst Pavarotti. Aber Puccinis Oper ist nur eine von vielen Bearbeitungen dieser Commedia dell’arte von Carlo Gozzi. Nun inszeniert Jens-Daniel Herzog Friedrich Schillers Nachdichtung im Residenz Theater.
AZ: Herr Herzog, was reizt Sie an dieser selten gespielten Tragikomödie?
JENS-DANIEL HERZOG: Das Stück ist so von der Oper überlagert, dass es fürs Theater fast verbrannt ist. Schiller wirft ein ganz anderes Licht auf die Geschichte. Da hat man was zu entdecken.
Das erstaunlich Moderne an Schillers Text ist Turandots Emanzipation. Sie lässt die Heiratskandidaten, die ihre Rätsel nicht lösen, nicht aus Männerhass hinrichten, sondern weil sie keine fremdbestimmte Ehefrau sein will.
Bei Puccini, der sich von Schiller inspirieren ließ, ist Turandot traumatisiert, auch sexuell. Schiller hingegen gibt ihr eine unglaublich rationale Begründung für ihre Handlungsweise. Bei Schiller sind eher die Männer traumatisiert als diese kluge Frau, die ihre Freiheit lebt. Turandots Intelligenz sprengt die allgemeine Verblödungsindustrie ihres Vaters.
Turandot verliebt sich in Kalaf. Dennoch kann sie ihre Niederlage nicht akzeptieren.
Schiller definiert genau das Verhältnis von Öffentlichkeit zu Privatheit, wie Turandot unter öffentlichem Druck agiert und wann sie private Gefühle hat. Dafür muss man einen zeitgemäßen Ausdruck finden.
Wie soll man heute verstehen, dass Kalaf sich in ein Bildnis Turandots verliebt?
Tausende von Menschen aus Afrika ertrinken heutzutage im Mittelmeer, weil sie sich in ein Bild von Europa verliebt haben. Sie denken, alles in Europa sieht aus wie die Nivea-Dusch-Werbung. Kalaf ist ein Asylant, der alles verloren hat und wieder zu Ruhm und Ehre kommen will. Er kennt den Code des fremden Staates nicht und setzt alles auf die eine Karte, in Turandots Quizshow aufzutreten. Ihm ist egal, ob er stirbt oder lebt. Er hat nichts mehr zu verlieren.
Der chinesische Hofstaat besteht bei Gozzi und Schiller aus Commedia-dell’arte-Figuren. Wie gehen Sie damit um?
Schiller hat versucht, den Wildwuchs der Commedia zu beschneiden. Wir lassen den Figuren Freiraum und arbeiten mit ironischen Zitaten. Unser Ansatz ist das Spektakel und das Aufsteigermärchen. Schiller war sich des Spektakelcharakters bewusst: Er schrieb für jede Aufführung in Weimar neue Rätsel als Anreiz fürs Publikum. Es ist spannend, dass heute, wo uns das Fernsehen systematisch verdummt, Wissensshows Konjunktur haben. Es ist ein Versuch, die Fahne hochzuhalten in der Zeit der großen Medien-Fressmaschine.
Gibt es bei Ihnen Musik?
Klar, wir arbeiten mit einem Leitmotiv aus Puccinis Oper.
Seit zehn Jahren inszenieren Sie viel Oper. Ist die Arbeit anders als im Schauspiel?
In der Oper hat sich in den letzten Jahren irrsinnig viel getan. Die Sänger sind neugierig und wollen wissen, was sie singen. Insofern ist die Arbeitsweise fast identisch. Im Schauspiel fehlt die vorgegebene Musik, da muss man mehr am Hintergrund arbeiten.
Sie waren von 2000 bis 2006 Schauspieldirektor in Mannheim. Würden Sie wieder eine Bühne leiten?
In Mannheim brachten wir 20 Produktionen im Jahr heraus, weil man in einer kleinen Stadt die Stücke nicht lange spielen kann. Doch das Theater stand im Zentrum der Stadt. Wir hatten 130000 Zuschauer – bei 300000 Einwohnern ein guter Schnitt. Ich kann mir eine Leitungsfunktion wieder vorstellen, wenn die richtigen Leute zusammenkommen.
Gabriella Lorenz
Residenz Theater, heute 19 Uhr, morgen 20 Uhr, Tel. 2185 1940
- Themen: