Die Spiegelung im weiblichen Blick

„Haus der Sünde”: Bertrand Bonello besucht schwelgerisch, doch auch schonungslos ehrlich die Bordell- Kultur der Belle Epoque
Adrian Prechtel |
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8Geheimnis und Streitpunkt: Ob Feministin oder Erotomane, Romantiker oder Historiker – diesen Film sieht jeder mit anderen Augen und er bleibt dabei immer wahr!
Wir sind im Paris der Jahrhundertwende, der überladenen Belle Epoque mit ihrem verspielt-schweren Samt-, Ebenholz- und Golddekor. Und wir werden für zwei Stunden – fast immer nächtlich – in einem Edel-Bordell verweilen. Im „Haus der Sünde”, einer Welt von gestern, schwelgen Männer in ihren – aus der bürgerlichen Ehe ausgelagerten – sexuellen Dekadenz-Fantasien. Wir können unter den reichen Gästen Anspielungen auf Jules Vernes finden, ungenannt Gustave Courbet begegnen, der mit seinem Skandal-Vaginal-Bild vom „Ursprung der Welt” eine vordergründig viktorianische Epoche erregte.

Champagner-prickelnder Voyeurismus?

So könnte man dem Regisseur champagner-prickelnden Voyeurismus vorwerfen, einen romantisierenden männlichen Blick, der lüstern verspielt nicht hinter die jungen und lasziv geschminkten Fassaden schauen will.
Aber das kunstvoll Schillernde des Films besteht darin, den Nachtschatten-Frauen über die Nacht hinaus zuzuschauen: beim nachmittäglichen Frühstück, wo in großer Offenheit zwischen einem freundinnenhaften Gemeinschaftsgefühl auch Rivalität aufblitzt. Oder bei einem ausgelassenen Ausflug zu einem Manet-haften Picknik im Grünen, der dann doch auch wie ein Freigang aus einem Schuldturm erscheint. Auch der Besuch eines Leibarztes wird gezeigt, der bei einer tödliche Syphilis diagnostiziert. Eine andere flieht in den abtötenden Opiumrausch. Und über aller erotischen Schönheit liegt immer auch der Fluch der Gewalttat eines perversen Freiers, der einem der Mädchen den Mund zu einer Batman-Joker-Fratze zerschnitten hat. Auch blickt man beim Akt in ein ins Leere blickendes Gesicht einer zur Spielzeug-Puppe degradierten Kurtisane.
Regisseur Bonello bindet seine moralisch offene Gesellschaftsgeschichte auch an unsere Gegenwart an – mit einem kurzen Schlaglicht-Ausblick auf den heutigen Straßenstrich in Paris oder mit unterlegter Soulmusik, als eine Art sinnlich klagendem Sklaven-Erinnerungsgesang.

Aufwühlend ungeschönt, schwelgerisch nostalgisch

In Frankreich wird über ein Verbot der Prostitution gestritten, in Skandinavien haben sie Länder schon unter Strafe gestellt. Dafür gibt es eine neoprüde, neo-christliche, pseudo-feministische oder -humanistische Allianz, die letztlich keine Lösung des ungelösten Problems schafft – zwischen der Freiheit der Frau, mit ihrem Körper umzugehen und der Gefahr der Entwürdigung und Gewalt. Dieser Film ist ein differenzierter, aufwühlend ungeschönter und zugleich schwelgerisch nostalgischer Blick auf eine untergegangene Bordell-Kultur.

Kino: Neues Arena
R: Bertrand Bonello (F, 122Min.)

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