Die Sehnsucht nach der Krafthand
Dem Flaneur gefällt die Sopranistin Anna Netrebko, er hat aber politische Differenzen mit ihr
Als besessenen Opernfan würde ich mich nicht bezeichnen. Ich pilgere nicht zu Festspielen, stelle mich nicht an für Karten, reise nicht Lieblingssängerinnen hinterher, um sie um ein Autogramm anzuflehen.
Im Laufe meines Lebens als Kulturbanause habe ich bisher unterm Strich in Opern- und auch Theaterhäusern mehr gelitten als Beglückung erfahren. Deswegen höre ich eine Oper sicherheitshalber lieber im Auto, zumal ich dabei voran komme, von München bis Bozen oder Frankfurt zum Beispiel.
Wagner mag ich nicht, da käme ich noch weiter. Im Auto muss ich die steifen Seidenkleider der Premierenbesucherinnen nicht sehen und habe die nicht hoch genug einzuschätzende Freiheit, mit einem Knopfdruck die quälende Übertragung abzustellen oder auch eine wohltönende Partie so laut zu drehen, dass sie mir noch tiefer ins Herz dringt, mich zum Schmelzen bringt und ich am nächsten Parkplatz halten muss, um in die Wirklichkeit zurückzufinden, meine Fahrtüchtigkeit wieder zu erlangen und mir vorzunehmen, mal wieder einen Opernbesuch zu riskieren.
Anna Netrebko habe ich ein paar Mal im Fernsehen auftreten sehen. Puristen waren erst nicht überzeugt von ihr, meinem ordinären Massengeschmack kam die Holde aus Krasnodar entgegen – auch ihre Art, wie sie bei Interviews fröhlich die Zunge herausstreckt und sagt, die Welt bestünde nicht nur aus klassischer Musik, sie übe daher wenig und gehe lieber shoppen.
Das klingt frisch und frech und schön schamlos oberflächlich. Wenn es eine Masche ist, dann eine sympathische. Ihr unübersehbares Fülligerwerden kann man als selbstbewussten Trotz gegen die Musikindustrie verstehen, in der fast nur noch Sängerinnen mit schlanken Edelfiguren eine Chance haben. Leider hat die Netrebko dieser Tage in einem Interview beteuert, dass sie zu Putin halte, weil Russland zur Zeit einen starken Mann brauche.
Dass Frauen sich seit einer Weile nach einer maskulinen Krafthand sehnen, hat die Männerwelt mit Verwunderung und Schrecken vernommen. Wir arbeiten ja auch schon fleißig daran, wieder ein bisschen härter zu werden. Aber Putin?
Die Netrebko wird als Russin ihre taktischen Gründe haben, dem blassen Finsterling ihre Stimme zu leihen, ein Jammer ist es schon. Wie viel schwebender und jubelnder würden ihre Arien klingen, wenn sie sich für Pussy Riot eingesetzt hätte. Die drei wegen Blasphemie verurteilten Frauen sind doch, wenn auch Punks, ihre Gesangskolleginnen.
Die Sopranistin Anna Netrebko, womöglich barbusig oder in Rockerlederjacke, wie sie mit der Kettensäge einen Popen in die Flucht jagt und ein orthodoxes Kreuz umsägt, um gegen die perfide Verfilzung von Staat und Kirche in ihrer Heimat zu protestieren, das wäre eine Diva nach meinem Geschmack.