Die Quadratur des schweren Lebens

Autorin Nicole Krauss schickt vier Personen in vier Fragmenten auf Zeitreise
von  Reinhard Helling

Es gibt Bücher, die nehmen einen vom ersten Satz an gefangen. So ein Sofort-Starter ist der dritte Roman der ebenso attraktiven wie erfolgreichen US-Autorin Nicole Krauss nicht, die spätestens mit ihrem Welterfolg „Die Geschichte der Liebe” (2005) aus dem Schatten ihres Mannes Jonathan Safran Foer („Alles ist erleuchtet”) mittlerweile als Vegetarier weltbekannt, ausgetreten ist.

„Das große Haus” kann einen trotzdem packen – vorausgesetzt, man lässt sich auf die eingeflochtenen Rätsel mit wachen Sinnen ein und bringt die Geduld auf, die Zusammenführung der recht lose miteinander verbundenen Fäden von vier Geschichten über jüdische Schicksale im 20. Jahrhundert abzuwarten.

Leicht macht es einem die 36-Jährige jedenfalls nicht. Nehmen wir nur die Erzählstimme(n): Ungeniert schlüpft Krauss in vier verschiedene Ichs, die nacheinander das Wort ergreifen, ohne dabei einer Chronologie zu gehorchen. Sie werden auch nicht gleich mit Namen vorgestellt, was eine Identifikation anfangs behindert. Zudem hat die Autorin hier einiges ihrer während des Studiums in Ox- und Stanford erworbenen literarischen Bildung großzügig eingebracht, ablesbar an den Anklängen an die Bücher ihrer Lieblingsautoren David Grossman und W. G. Sebald, die hier und da zart durchschimmern.

Zusammengehalten werden die vier Teilgeschichten, die Fragmente einer großen Enthüllung sind, immerhin durch die Odyssee eines ungewöhnlichen Schreibtischs aus fast schwarzem Holz, auf dem ein Aufbau mit 19 Schubladen in absolut unpraktischen Größen thront. Nach diesem Möbelstück – „ein groteskes, bedrohliches Monstrum” – fahndet der israelische Antiquitätenhändler Georg Weisz, der das Arbeitszimmer seines 1944 in Budapest von der Gestapo verschleppten Vaters, eines jüdischen Gelehrten, im Heiligen Land rekonstruieren möchte, als könnte er „mit diesem Puzzlewerk die Zeit außer Kraft setzen und den Kummer tilgen”.

Dieses Unterfangen nun ist bei Sigmund Freud abgeschaut, dessen Familie sein Wiener Arbeitszimmer in der Berggasse 19 im Londoner Exil nachbaute.

Zu den zwischenzeitlichen Schreibtisch-Besitzern in Krauss’ Roman gehören die New Yorker Schriftstellerin Nadia, der von der Junta in Chile umgebrachte Dichter Daniel Varsky und die deutsche Jüdin Lotte Berg, die als 17-Jährige gezwungen war, mit einem Kindertransport Nürnberg zu verlassen und daraufhin in London landete.

Auf der Reise durch die Zeit, die den Leser nach New York, Frankfurt, London und Jerusalem führt, nimmt Krauss die Themen auf, die sie seit ihrem Prosadebüt mit „Kommt ein Mann ins Zimmer” (2002) umtreiben: Verlust und Erinnerung, Einsamkeit und Vergessen, hier ergänzt um Kinderlosigkeit und Alzheimer. Bei der historischen Schwere des Stoffs überrascht, dass die Autorin dieses für den National Book Award nominierte Buch ausgerechnet ihren Söhnen Sasha und Cy gewidmet hat, die noch im unschuldigen Kindergartenalter sind.

Reinhard Helling

Nicole Krauss, „Das große Haus” (Rowohlt, Verlag, 378 Seiten, 19.95 Euro)

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