Die Palastmauer bricht
Festspielhaus Baden-Baden: Christian Thielemann dirigiert die Münchner Philharmoniker für die Strauss-Oper "Elektra" in der alten Münchner Inszenierung von Herbert Wernicke
Vor allem in den oberen Rängen des riesigen Festspielhauses hatte man freie Platzwahl. Eine Oper, die vor allem davon handelt, wie sich ein Geschwisterpaar geradezu hysterisch in einen Blutrausch hineinsteigert, begleitet von einer Musik, die an Expressivität kaum zu überbieten ist, mag für viele noch immer den Beigeschmack des Ungeheuerlichen haben. Und dem mochte man sich an einem kühlen Winterabend lieber gar nicht erst aussetzen.
Herbert Wernickes Regie für die "Elektra" von Strauss hat seit der Münchner Premiere vor 13 Jahren noch immer nichts von ihrer grandiosen Bildwirkung eingebüsst. Für drei Vorstellungen und eine DVD-Aufzeichnung verpflanzte Bettina Göschl die Inszenierung jetzt mit geradezu penibel anmutender Akkuratesse nach Baden-Baden.
Minimalismus als Raum für Musik
Wernicke genügten Andeutungen: das Bühnenportal schwarz zugemauert, nur einige wenige Meter Spielfläche bleiben. Zwei Mal, beim Auftritt der Klytämnestra und in der Schluss-Szene, bricht die Palastmauer auf. Man sieht eine riesige Treppe, einen effektvollen Lichtraum, in gleissend rote Farben getaucht.
Jane Henschel brachte das Kunststück fertig, die schlimmen Träume Klytämnestras nicht karikierend grotesk, sondern angsterfüllt menschlich darzustellen. Und auch in der Musik wird das immer wieder hörbar, weil Christian Thielemann ebenfalls dafür sorgte, dass kein klangmalerisches Detail unter den Teppich gekehrt wurde.
Orchesterpracht
Schon im ersten Elektra-Monolog demonstrierten die prächtig motivierten Münchner Philharmoniker, wie Strauss bei aller artistischen Klangwirkung immer wieder jene Zwischentöne beschwor, die mehr beschreiben als nur die effektvoll-animalischen Untiefen der Akteure. Unter denen erwies sich neben Jane Henschel auch der 72-jährige Rene Kollo als Glücksfall. Sein Aegisth erinnerte präzise textverständlich an Sängertugenden, die man längst verloren glaubte.
Für Linda Watson in der Titel-Partie gab es vereinzelte Buhs. Schade, dass Christian Thielemann mit ihr, Manuela Uhl (Chrysotemis) und Albert Dohmen (Orest) offenkundig weniger gearbeitet hatte als mit dem Orchester. Das brauchte an diesem Abend niemanden zu fürchten - schon gar nicht aus Dresden.
Volker Boser