Die Nacht vor der großen Schlacht

Heute Premiere im Marstall: Alexander Nerlich inszeniert „Leere Stadt“ von Dejan Dukovski – eine Kriegsgeschichte um zwei rivalisierende Brüder
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Heute Premiere im Marstall: Alexander Nerlich inszeniert „Leere Stadt“ von Dejan Dukovski – eine Kriegsgeschichte um zwei rivalisierende Brüder

Zwei Soldaten nachts in einer verlassenen Stadt. Der Ältere ist der Gefangene des Jüngeren. Doch sie sind Brüder, die sich jahrelang nicht gesehen haben. Und obwohl sie für feindliche Armeen kämpfen, spielen (oder träumen?) sie in dieser letzten Nacht vor der Schlacht einmal das Leben, das sie gerne gelebt hätten. Der 40-jährige Mazedonier Dejan Dukovski wurde in den 1990er Jahren zum Shooting Star unter den Theaterautoren des Balkans. Sein Stück „Leere Stadt“ inszeniert Alexander Nerlich nun im Marstall. Marcus Calvin spielt den älteren Gjore, Felix Klare den jüngeren Gjero.

AZ: Herr Calvin, Herr Klare, Gjero nutzt seine Überlegenheit zur privaten Abrechnung. Steht hier ein Balkan-Krieg für einen Bruderkrieg?

MARCUS CALVIN: Sie tragen ihre eigene private Fehde aus, aber sie merken, dass sie im selben Boot sitzen.

FELIX KLARE: Die Feind-Situation wird schnell aufgelöst, es ist einfach ein Bruderverhältnis. Aber der Jüngere hat schon was aufzurechnen gegen den Älteren. Die Mutter ist tot, der Vater auch, der Bruder ist weggegangen – er hat sich alleingelassen gefühlt.

CALVIN: Der große Bruder hat dem kleinen ziemlich übel mitgespielt. Meist profitiert ein jüngerer vom älteren Bruder. Hier hat er das Negative abbekommen, aber er ist dadurch auch stark geworden. Weil er mehr weiß, vielleicht. Der Ältere war ja lange weg.

KLARE: Es geht eigentlich um Versöhnung. Aber um zur Verzeihung zu kommen, braucht es erst einmal eine Anklage, Wut und Streit. Das findet alles statt im Gefängnis der leeren Stadt und des Krieges.

Beide imaginieren ihr erträumtes Leben: schicke Anzüge, Champagner, ein Bankraub, Spielcasino, Theater, Bordell – und Kirche.

KLARE: Die Stationen, die wir durchlaufen, wollen wir nochmal durchleben. Wir wollen alles ausschöpfen, dabei helfen uns auch Drogen. Wir haben ja nichts zu verlieren außer unserer Beziehung. Aber das ganze kapitalistische, materielle Zeug ist letztlich wertlos. Es rettet uns nicht vor dem Gedanken an den Tod. Wir laufen Gefahr, in den Tod zu gehen, ohne einen Abschluss gefunden zu haben. Man muss erst was beenden, um was Neues anzufangen – um bereit zu sein für den Tod.

Der Jüngere erzählt dem Älteren dauernd neue Varianten über die Familie und seine Geliebte Maria: Man weiß nie, was Lüge, was Wahrheit ist.

KLARE: Das ist sehr verschlungen. Man kann auch nicht sagen, ob das Ganze Realität oder nur Traum ist.

Wofür steht das Bild der menschenleeren Stadt?

KLARE: Es ist ein Ort zwischen unserer Heimat und da, wo der Ältere herkommt.

CALVIN: Der Autor hat definitiv eine evakuierte Stadt gemeint. Bei uns ist es ein Spielplatz, ein unschuldiger Rahmen, der sich durch unsere Fantasie verwandelt.

Dejan Dukovskis Stücke sind alle vom Krieg geprägt.

CALVIN: Es geht darum, wie solche Gewaltexzesse entstehen. Für Gjero und Gjore verschwindet der Krieg eine Weile. Doch durch das Spielen, Fantasieren, Verdrängen merken sie immer wieder: Die Zeit rinnt. Man schaut zu, wie sich zwei Menschen am Leben erhalten mit Geschichten, Drogen, ihrer Beziehung.

KLARE: Sie erkennen die Lächerlichkeit der Situation.

CALVIN: Aus welchen Banalitäten Kriege entstehen.

KLARE: Das ist total absurd und sinnlos.

Hat dieses absurde Theater eine Aussage?

CALVIN: Die Versöhnung. Dass man sich fragt, warum werde ich so aggressiv und spreche andere schuldig? Wenn alle unerbittlich sind, gibt es Krieg. Es müsste eine Lösung geben, aber ich fürchte, das ist Utopie. An Obamas Friedensnobelpreis-Rede sehe ich die Zwickmühle des Mannes, der Krieg führen muss, um das Ziel der Versöhnung zu verfolgen. Ich bin ein verzweifelter Idealist und wünsche mir, dass es funktioniert. Aber ich sehe, dass der Egoismus der kapitalistischen Welt nicht zu bremsen ist. Vor Weihnachten spenden wir wieder für arme Kinder, damit beruhigen wir unser Gewissen. Aber das Problem existiert da draußen immer noch.

Gabriella Lorenz

Marstall, heute 20 Uhr, Tel.21851940

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