Die Leiden des alten G.
Für Stefan Zweig war es eine „Sternstunde der Menschheit“,Walser spricht vom „Gipfelgedicht der deutschen Poesie“. Doch die Umstände, die Johann Wolfgang von Goethe veranlassten, auf der Rückfahrt von Böhmen nach Weimar 1823 seine „Marienbader Elegie“ zu verfassen, waren tragisch. Martin Walser schrieb einen bewegenden Roman über Johann Wolfgang von Goethe letzte, unerfüllte Liebe.
Der Dichter Johann Wolfgang von Goethe hatte sich verliebt, ein letztes Mal, unglücklich, in die über fünf Jahrzehnte jüngere Ulrike von Levetzow. Er machte sich zum Gespött der Kurgäste und schickte sogar seinen Gönner, Erzherzog Karl August von Weimar, vor, um bei der Mutter um Ulrikes Hand zu bitten. Vergeblich. In seinem 80. Lebensjahr hat Martin Walser diese Geschichte in dem Roman „Ein liebender Mann“ mit Fiktion angereichert. Es wurde sein emotional bewegendstes Buch, das ein wenig auf die deutsche Bildungsgeschichte zurückblickt. Schließlich verfasste auch Thomas Mann mit „Lotte inWeimar“ seinen Goethe- Roman. Dem Thema entsprechend stellt Walser das Buch heute im Festsaal der Weimarer Residenz vor. Bundespräsident Horst Köhler wird erwartet. Die AZ besuchte Martin Walser in seinem Haus am Bodensee, wo er seit vier Jahrzehnten mit Blick auf Garten und Wasser von seinem Schreibtisch aus das Land mit Romanen und Debatten füttert.
AZ: Herr Walser, Sie verfassen in Ihrem Roman intime Liebesbriefe unter dem Namen Johann Wolfgang von Goethe. Birgt diese Form nicht ein großes künstlerisches Risiko?
MARTIN WALSER: Ich hatte damit kein Problem, kein Authentizitätsproblem und auch kein stilistisches. Die Briefe waren einfach wichtig für das Buch. Ich bin nach Weimar, Marienbad und Karlsbad gefahren, als ich den Roman praktisch schon abgeschlossen hatte. Mein Dolmetscher und Reiseführer gab mir zum Abschied die Kopie eines kleinen Buches aus dem Jahr 1905. Dort stand, dass Ulrike am Abend vor ihrem Tod auf einer silbernen Platte Briefe verbrennen ließ. Die Asche kam in eine silberne Kapsel mit zu ihr in den Sarg. Eine Großnichte Ulrikes überlieferte, es sollen Briefe Johann Wolfgang von Goethe gewesen sein. Stellen Sie sich das vor: Es gab diese Briefe, sie wurden verbrannt, und ich habe sie jetzt in diesem Roman neu geschrieben.
In den meisten Büchern über Johann Wolfgang von Goethe ist Ulrike von Levetzow nur eine kleine Randfigur.
Man erfährt nie, was sie gekonnt haben könnte, was ihren Reiz ausmachte. Zwei, drei windige Sätzchen, die nichts wert sind. Mein Legitimationsmotiv beim Schreiben war, dass ich aus Ulrike einen Menschen machen wollte. Wenn Johann Wolfgang von Goethe sie so geliebt hat, wie es in der „Marienbader Elegie“ zum Ausdruck kommt, dann kann Ulrike nicht dieses kümmerliche Gerüchtgespenst gewesen sein, das sie in den meisten Überlieferungen ist. Ich habe also aus ihr eine Ulrike gemacht, die seiner Liebe wert gewesen wäre.
Gehört eine gewisse Gelassenheit des Alters dazu, sich dem Giganten Johann Wolfgang von Goethe so persönlich zu nähern?
Ich habe ja mehr als eine Erfahrung literarischer Art gemacht. Meine Romane „Lebenslauf der Liebe“, „Augenblick der Liebe“ und „Angstblüte“ sind drei Bücher, die von Liebe mit einem Altersunterschied handeln. Dieses Thema nun mit Johann Wolfgang von Goethe durchzuspielen, das hat mir viel Freude gemacht. Ich hatte ja die Gewähr, die „Marienbader Elegie“ – ich sage jetzt mal plakativ: das Gipfelgedicht der deutschen Sprache. Das muss Liebe gewesen sein, sonst hätte Johann Wolfgang von Goethe diese Elegie nicht schreiben können.
Sie wurden für Ihre Auseinandersetzung mit dem Thema Alter und Erotik angegriffen, vor allem von Kritikerinnen.
Gut, aber jetzt haben wir diesen Fall Johann Wolfgang von Goethe, und der ist ein gefundenes Fressen für mich. Ich bin auch sehr gespannt, ob die Kritiker den eben genannten Tadel angesichts dieses klassischen Vorbildes aufrecht erhalten können. Manche machen heute aus einem Altersunterschied so etwas wie Rassismus.
Aber schon damals wunderten sich die Kurgäste in Marienbad und der Hof in Weimar.
Johann Wolfgang von Goethe war 74 Jahre alt, Ulrike 19. Das ist ein Unterschied, der absolut zu werden droht. Johann Wolfgang von Goethe hat das gewusst, gespürt, geahnt. Deswegen habe ich dann etwas gedeutet, was nicht belegbar ist. Ich sage, Johann Wolfgang von Goethe hat in der zweiten Fassung von „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ mit dem Untertitel „Die Entsagenden“ der ganzen Weimarer Kulturkulisse und der Nachwelt einen vorgespielt, der entsagt. In Wirklichkeit hat er nicht eine Sekunde lang resigniert oder entsagt. Wenn man eine solche Liebe erlebt, wie er sie zu Ulrike hatte, kann man das nicht einfach überwinden. Die „Marienbader Elegie“ zeigt, dass es keinen inneren Frieden gibt mit dieser Art von Unglück. Für mich persönlich aber hat es sich dann mit diesem Thema.
In Ihrem Roman betrachtet sich Johann Wolfgang von Goethe nackt vor dem Spiegel und sinniert über seinen Körper. Spiegelt sich da nicht der älter gewordene Schriftsteller Martin Walser?
Nein, ich bitte Sie. Das wäre doch grotesk. Johann Wolfgang von Goethe vor dem Spiegel, nackt! Da muss man einfach ganz von innen heraus wissen, dass er sich gerne so gesehen hätte, wie ich ihn sich in diesem Roman sehen lasse. Ich lege meine Hand dafür ins Feuer. Ich weiß doch, dass er seinen Körper geliebt hat. Entschuldigung, aber genau in dieser Spiegelszene sieht er wirklich besser aus als ich. Er hatte einen schöneren Körper.
Sie haben sich einmal als einen Autor charakterisiert, der sehr auf seine eigene Empfindsamkeit angewiesen ist.
Natürlich hätte ich dieses Buch mit 30 Jahren nicht schreiben können. Auf einer abstrakten Ebene kann ich sagen: Das Alter ist auch eine Wiese, auf der Blumen stehen, die vorher nie geblüht haben. Das Schreiben wäre ja sinnlos, wenn man nicht in jedem Alter etwas anderes denken und fühlen würde. Das hat – etwas pathetisch ausgedrückt – etwas mit Leiden zu tun. Man leidet in jedem Alter anders.
Abgesehen von der Tragik dieser unmöglichen Liebe Johann Wolfgang von Goethe zu Ulrike von Levetzow ist „Ein liebender Mann“ auch ein komisches Buch.
Für mich sind das Wichtigste an diesem Buch die Gespräche zwischen Johann Wolfgang von Goethe und Ulrike. Ich brauche irdischesMaterial, aus dem ich schöpfen kann, und habe mir bei der Ulrike, wenn ich ihren Gestus beschreiben wollte, ein konkretes Vorbild vor Augen geführt, eine Frau, die ich nie persönlich kennengelernt habe: die ganz junge Romy Schneider. Wie sie auf der Marienbader Promenade an der Seite Johann Wolfgang von Goethe schreitet, ihn keck in Frage stellt mit jugendfrischer Distanz. Sie hat sozusagen meine Rolle gespielt, die ich Johann Wolfgang von Goethe gegenüber einnehme.
Johann Wolfgang von Goethe schreibt wie in einem Rausch, tagelang, fiebrig, die „Marienbader Elegie“. Er will das Thema von sich wegschreiben – es gelingt ihm nicht.
„Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt/ gab mir ein Gott zu sagen...“ Das hat er der Welt serviert. In Wirklichkeit hat er geliebt und gelitten. Und da zitiert er fast etwas, das ich mir auch schon länger überlege: „Geschrieben zu haben nützt nichts – nur schreiben.“ Es ist ja undenkbar, dass etwas geschrieben zu haben, einen von dem Anlass erlöst. Das kann ja nicht sein.
Herr Walser, in Ihrem 80. Lebensjahr ein Roman über Johann Wolfgang von Goethe letzte Liebe – das klingt nach dem Abschluss einer langen literarischen Auseinandersetzung.
Das Material war vorbereitet, weil ich mich schon in den 70er und 80er Jahren intensiv mit Johann Wolfgang von Goethe befasst hatte. Damals schätzte ich ihn, aber ich liebte ihn noch nicht. Ich wusste daher nicht, wie schön und leicht es sein würde, über Johann Wolfgang von Goethe zu schreiben.
Volker Isfort
Martin Walser: „Ein liebender Mann“ (Rowohlt, 286 S., 19.90 Euro). Das Buch erscheint am Freitag