Die Gewalt der Liebe

Der Grazer Autor Clemens J. Setz gewann vergangene Woche den Preis der Leipziger Buchmesse – er untersucht in seinem Erzählband die dunklen Spielformen des Lebens
von  Michael Stadler

Wer viele Pfunde hat, für den kann eine Waage zu einer täglichen Bedrohung werden. Aber wieso gerät David in Unruhe, als eines Tages im Hof seiner Wohnanlage ein altertümliches, klobiges Messgerät neben den Mülltonnen steht? Davids Gewicht ist normal, trotzdem scheut er zurück, auch vor dem Hausbesitzer, der aus Spaß jeden Mieter wiegen möchte. Oder steht so eine Waage für eine bürgerliche Ordnung, die einen ständig taxieren will?

Ein guter Fang

Clemens J. Setz hält die Bedeutung der Waage gekonnt in der Schwebe, ihr Erscheinen infiziert David, macht sein Verhalten seltsam. Wie ein Virus breitet sich das Irrationale in vielen der 18 Erzählungen aus, die Setz unter dem Titel „Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes” in einem Band versammelt. Es ist sein drittes Werk, sein erstes nach seinem Wechsel vom Residenz zum Suhrkamp Verlag. Der hat mit dem gehypten 28-jährigen Autor aus Graz einen guten Fang gemacht: Setz gewann den Preis der Leipziger Buchmesse und setzte sich damit gegen Nominierte wie Peter Stamm durch. Im Gegensatz zum schnörkellos erzählenden Schweizer Stamm lässt der Österreicher Setz seine Ideen wild ins Surreale wuchern, hinein in moralische Grenzgebiete und darüber hinaus.

Im Geiste des Marquis de Sade

Ein Paar befreit sich in der längsten Erzählung des Bands durch eine Scheidung von den Zwängen der Ehe, beginnt eine Sadomaso-Beziehung, bestellt eine Prostituierte, die es bis zur Ohnmacht quält, und verdirbt eine Nachbarstochter, forsch im Geiste des Marquis de Sade. Da gleitet Setz ins Pornographische ab, unverblümt und entschlossen kunstlos. Ihm geht es um Lebens- als Spielformen, zu denen auch die Unterwerfung gehört: Eine Frau bestellt sich einen Käfig nach Hause und will Sklavin sein, oder ein Angestellter wird von seinen Kollegen drangsaliert. Inwieweit er unter den Zumutungen leidet, daran kommen zuletzt Zweifel auf. Die kindliche Unschuld steht bei Setz unter Dauerattacke – oder ist schon verloren. Rahmend erzählt er in der ersten Geschichte von einem Jungen, der gewalttätig wird; in der letzten stellt ein Künstler eine Lehmstatue am Ende einer Sackgasse auf und lädt die Einwohner der Stadt ein, auf dieses „Mahlstädter Kind” einzuprügeln. Nur das Gesicht des gebeugten Körpers kann nicht getroffen werden. Es hat überraschend feine Züge. Es gibt etwas, da kommt keiner heran, immerhin.

In einem fiktiven Essay parodiert Setz die Fußnotenverliebtheit der Geisteswissenschaften und berichtet von einem Computerspiel-Erfinder, der berühmt für ein Spiel ist, dessen letztes Level scheinbar fehlt. Erst das Ende gibt dem Ganzen Bedeutung, das weiß Setz, und er experimentiert nicht nur mit Erzählstilen, sondern auch mit den Erwartungen seiner Leser.
Es ist diese Unberechenbarkeit, die seine Geschichten, in aller Unausgewogenheit, immer wieder aufregend macht.



Clemens J. Setz: „Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes” (Suhrkamp, 350 Seiten, 19.90 Euro)

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