Die bleierne Zukunft
Die Münchner Philharmoniker sind auf Vaterfiguren fixiert und verschlafen die Chance für den notwendigen Wandel
Wer nichts über Macht wisse, so Elias Canetti in seinem Buch „Masse und Macht“, könne alles Wesentliche aus der Beobachtung des Dirigenten lernen. Er allein steht erhöht, die Partitur wie ein Gesetzbuch vor Augen. Sein Ohr sucht die Luft nach Verbotenem ab. Allwissend ist er während der Aufführung ein Herr der Welt.
Weil Dirigenten jenseits schlagtechnischer Fertigkeit und Musikalität durch unmessbares Charisma wirken, umweht sie der Ruf hochbezahlter Scharlatanerie. Musiker spüren das: „Wenn ein neuer Mann vor das Orchester tritt, wissen wir aufgrund der Art und Weise, wie er das Podium betritt und die Partitur aufschlägt, ob er der Herr ist oder wir“, sagte der Vater von Richard Strauss, der sich als Hornist im Münchner Hoforchester mit Wagner anlegte.
Macht und Missbrauch
Herren und Charismatiker sind selten. Christian Thielemann ist einer. Aber die Philharmoniker fanden, dass er seine Macht missbrauchte, und begehrten auf. In der Sache hatten sie Recht, aber um den Preis der Verärgerung des Publikums: In seiner Konzentration auf Brahms, Beethoven und Bruckner ist Thielemann die Symbolfigur jener, denen vor der Moderne und einer Veränderung des gewohnten Repertoires graut. Die schweigende Hälfte der Konzertgänger würde dabei mitmachen, wenn das vermittelnde Drumherum stimmen würde.
Ohnehin geht die Zeit der Musikdiktatoren seit dem Tod Herbert von Karajans zu Ende. Eine neue, in Jugendorchestern groß gewordene Generation von Musikern kann mit Pult-Autokraten wenig anfangen. Die Berliner Philharmoniker kürten in einer demokratischen Wahl 1989 den konzilianten Claudio Abbado zum Nachfolger Karajans. Lorin Maazel rechnete sich damals Chancen aus, aber er stand gar nicht zur Abstimmung.
Zeit gewinnen oder Zeit nicht verstehen?
Die Stadt will diesen mittlerweile bald 80-jährigen für drei Jahre als Interims-Chef der Münchner Philharmoniker holen. Vielleicht möchte der Kulturreferent so für die Suche nach einem jüngeren Dirigenten Zeit gewinnen. Zu fürchten ist aber, dass das auf Vaterfiguren wie Sergiu Celibidache fixierte Orchester noch immer nicht die Zeichen der Zeit verstanden hat.
Die Philharmoniker halten sich, nicht zu Unrecht, seit Jahren für international unterschätzt. Mit der Vertreibung Thielemanns zerschlug sich der Baden-Badener „Ring des Nibelungen“, bei dem im Wagner-Jahr 2013 vielleicht der Knopf geplatzt wäre. Das Orchester schielt wohl auf Gastspiele unter Maazel, statt endlich einmal den Werbespruch vom „Orchester der Stadt“ mit Leben zu erfüllen.
Eine Personalie ohne Inhalte
Natürlich ist ein namhafter Autokrat ein Argument zur Verlängerung eines Abonnements. Aber es wäre an der Zeit, sich weniger selbstzufrieden auf Rekordzahlen auszuruhen und inhaltliche Taten wie eine Strukturierung des Programms und die Gründung eines Jugendorchesters zu wagen. Weil Klassik nicht mehr zum Bildungskanon gehört, ist Vermittlung überlebenswichtig, so, wie sie Abbados Nachfolger Simon Rattle in Berlin ohne künstlerische Abstriche vorbildlich betreibt.
Von alledem wird bei den Philis gern geredet. Aber Taten bleiben aus. Weil von älteren Herrn kaum Neues zu erwarten ist, das Orchester gern der Vergangenheit nachhängt und weder vom Kulturreferat noch vom auf Tauchstation befindlichen Intendanten Paul Müller ein Wort Programmatik zur Personalie Maazel zu hören war, sind drei verlorene Jahre bleierner Zeit zu befürchten.
Robert Braunmüller