Die Abgründe in uns allen
Staatstheater am Gärtnerplatz: Der Regisseur Immo Karaman über Benjamin Brittens Oper „Tod in Venedig“ nach einer Novelle von Thomas Mann
Ein alternder Künstler flüchtet sich aus einer Schaffenskrise in die Lagunenstadt und stirbt dort an Cholera: Als letzte Oper vollendete der Komponist Benjamin Britten 1973 seinen „Tod in Venedig“ nach Thomas Mann. Ab Samstag ist Immo Karamans Inszenierung im Gärtnerplatztheater zu sehen.
AZ: Herr Karaman, was ist der Mehrwert dieser Oper gegenüber der Novelle?
IMMO KARAMAN: Brittens Oper ist ein großer Monolog des Gustav von Aschenbach. Alle Gegenspieler-Rollen wie den Reisenden oder den Hotelmanager hat der Komponist zu einer großen Bariton-Rolle zusammengefasst. Damit wird ein Moment von Maskierung eingeführt, das Thomas Mann nur andeutet.
Betonen Sie das Gemeinsame der Gegenspieler-Figuren?
Ich wollte Gary Martin nicht bis zur Unkenntlichkeit zukleistern. Eine Theater-Behauptung „Ich bin Gondoliere“ durch das gestische Spiel ist viel schillernder und stärker. So steigert sich die Irritation Aschenbachs immer weiter.
Die Handlung führt vom Münchner Nordfriedhof nach Venedig. Wie wichtig sind diese Schauplätze?
Das Atmosphärische ist wichtiger als der Schauwert. Die Oper verbindet mit Venedig Untergang, Morbidität, Spiegelung und Düsternis. Um 1910 war die Stadt wohl wirklich ein Moloch, ganz im Unterschied zu heute. Bei Thomas Mann und Britten ist sie ein Gefäß, in dem Welten kollidieren. Wir erzählen die Irrealiät des Orts ganz aus Aschenbachs Perspektive: Die Räume sind seine Räume, eine Psychonautik, wie es der Bühnenbildner Kaspar Zwimpfer nennt. Aschenbach steigt in sein eigenes Labyrinth und geht darin unter.
Wie gehen Sie mit der erotischen Faszination durch Knaben um, die Britten, Mann und Aschenbach verbindet?
Tadzio und seine Freunde werden von 14-jährigen Tänzern der Bosl-Stiftung dargestellt. Die Oper ist weder ein Schwulendrama noch ein Outing und auch keine Liebesgeschichte zweier Männer, die nicht zueinander kommen. Alles spielt sich in Aschenbachs Kopf ab und wird so pathologisch. Wir konfrontieren den Zuschauer mit Aschenbachs Innenleben, das teilweise erschreckend ist. Es geht auch um die Frage, inwieweit ein Gedankenspiel bereits verwerflich ist. Wir alle haben Abgründe in uns.
Würde Aschenbach mit Tadzio ins Bett gehen?
Seine Sexualität hat nichts Körperliches, es ist eher eine Faszination des Schönen. Die Annäherung erfolgt über den Intellekt, wenn er Tadzio mit dem antiken Ideal vergleicht.
War es schwierig für Sie, die Regie mit einem Choreografen zu teilen?
Tadzios Familie ist ein eigener Kosmos. Bei uns wirkt ein Ensemble von zehn Tänzern mit. Ich arbeite seit Jahren mit meinem Partner, dem Choreografen Fabian Posca, zusammen. Wir haben schon lange einen gemeinsamen Stil entwickelt, der hier zum ersten Mal von einem Werk legitimiert und gefordert wird.
Steht die Verfilmung der Novelle durch Luchino Visconti der Inszenierung im Weg?
Die Frage „Wird’s denn so schön wie der Film?“ steckt in vielen Köpfen drin. Meine Antwort ist: „Ich hoffe nicht“. Ich finde diesen Film furchtbar, weil er aus der Geschichte eine leicht anrüchige Romanze macht. Ich kann auch nichts damit anfangen, dass Aschenbach mit Gustav Mahler gleichgesetzt wird.
Robert Braunmüller
Premiere am Samstag, 19.30 Uhr. Weitere Aufführungen am 23. Juni sowie 1., 7., 19., 24., 27. und 30. Juli. Am 21. und 26. Juni sowie am 17. und 19. Juli veranstaltet Dirk Heisserer von 15 bis 17 Uhr als erweiterte Einführung einen Stadtspaziergang auf den Spuren Gustav von Aschenbachs und Thomas Manns. Treffpunkt ist der Diana-Brunnen am Kufsteiner Platz. Karten zu 10 Euro unter Tel. 21 85 19 60