Der Vorführ-Effekt

Seit zehn Jahren werden im deutschen Fernsehen angeblich Superstars gesucht. Dass dabei fast niemand gefunden wird, liegt nicht am Format, sondern am falschen Umgang mit dem Thema
von  Abendzeitung

Seit zehn Jahren werden im deutschen Fernsehen angeblich Superstars gesucht. Dass dabei fast niemand gefunden wird, liegt nicht am Format, sondern am falschen Umgang mit dem Thema

Britney Spears oder Justin Timberlake verdanken ihre Weltkarriere einer Castingshow, in Deutschland schafften es die ersten Sieger, die No Angels (2001), immerhin, ihre nationale Popularität auf ein paar Jahre zu dehnen. Doch die Bilanz von zehn Jahren Starsuche im heimischen TV ist ernüchternd bis katastrophal: ein wenig Bro’Sis, ein Hauch Küblböck und Medlock und viel Schweigen und schnelles Vergessen.

Seit aber die britischen Underdogs Paul Potts und Susan Boyle in der Fernsehshow „Britain’s Got Talent“ die Welt zu Tränen gerührt haben, hat sich offenbar in den Köpfen deutscher Castingshow-Macher eine Stimme eingenistet: „Wir brauchen so was auch! Such mir jemanden, der nach Prekariat aussieht, aber eine Stimme wie ein Engel hat!“

In England gibt es ein Klassenbewusstsein mit dazugehöriger Kultur und gemeinsam gelebten Codes, wie in den Sozialdramen von Ken Loach. RTL „ersetzt“ die kulturelle Tradition, das Mitfiebern für den sozialen Aufstieg, durch Schadenfreude und Peinlichkeiten. Mit diesem Prinzip aber wäre Susan Boyle niemals zur weltweit erfolgreichsten Unterhaltungskünstlerin im Jahr 2009 aufgestiegen – mit sechs Millionen verkauften Debütalben.

Seit Mittwoch zeigt RTL nun wieder bemitleidenswerte Menschen, die vor die Kameras von „Deutschland sucht den Superstar“ gezerrt werden. Der Boyle-Effekt tritt nicht ein. Dabei haben sich die Produzenten die allergrößte Mühe gegeben, extrem untalentierte Menschen vor die Linse zu kriegen.

Selbst das angenehme Fremdschämen ist weg

Zumindest in der ersten Folge singt jeder Einzelne von ihnen tatsächlich so schlecht, wie sie es ankündigen: „Ich hab’ als Kind mal Gesangsunterricht gehabt, aber das hat auch nichts genützt.“

Der dramatische Unterschied zu den vorherigen Staffeln ist, dass das angenehme Fremdschämen beim Zuschauen abhanden gekommen ist. Denn die Kandidaten werden auf abstoßendere Weise als jemals zuvor vorgeführt. Nicht von der Jury. Während sich Dieter Bohlen, Nina Eichinger und Volker Neumüller je nach Temperament rotzig bis artig, aber selten verächtlich äußern, schrecken die Produzenten der Einspieler auch vor Niedertracht nicht zurück.

Da wird zuerst eine Fallhöhe aufgebaut, die völlig an den Haaren herbeigezogen ist: „In diesem Jahr müssen sie so gut sein wie noch nie“, schwadroniert ein Off-Sprecher gleich zu Beginn. „Für einen von 25000 beginnt heute der Weg nach ganz oben!“ Da also, wo die Sieger der letzten DSDS-Staffeln heute sind. Wie hießen sie doch gleich?

Anschließend werden in kurzen Einspielern Kandidaten vorgestellt, die nicht nur an der unglaublichen Selbstüberschätzung leiden, die ja bei den Teilnehmern schon Tradition hat. Einer bekommt kurz vor seinem Auftritt von Mutti die Kleider geordnet, und das wirkt nicht wie gluckenhafte Mütterlichkeit, sondern wie eine pflegerische Leistung. In den kurzen Interviews ist es erschreckend offensichtlich, dass sie die Sätze der Redakteure weisungsgemäß nachsprechen („Ich werde Deutschlands Superstar, weil ich fürs Fernsehen einfach geschaffen bin“).

Ein Mann, der nach eigenem Bekunden noch nie Sex hatte, wird gefragt, ob er denn gern mit Jury-Mitglied Nina Eichinger schlafen würde, und in welcher Reihenfolge er ihr denn ihre Kleider ausziehen würde. Er gibt willig und bejahend Auskunft. Selten hat man mit einem so kurzen Fernsehmoment gleich zwei Leute in Peinlichkeit gestürzt. Ausbeutung statt Mitleid – wenn das der Weg sein sollte, der zum Boyle-Effekt führt, dann ist er lang und schmerzhaft steinig.

Julia Bähr

merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.