Der Tag vor dem Glück
Vor vier Jahren musste sie noch Klinken putzen: Die damals 29-jährige TV-Journalistin Charlotte Roche hatte ein Manuskript verfasst, das grob zusammengefasst die sexuellen Wirrungen einer 18-Jährigen thematisierte – und stieß damit auf wenig Liebe bei deutschen Verlagen. Nur Marcel Hartges, damals Leiter des DuMont Verlags, witterte das Erregungspotenzial des Buches und behielt Recht. „Feuchtgebiete” verkaufte sich über zwei Millionen Mal, eine fast beispiellose Erfolgsgeschichte auf dem deutschen Buchmarkt.
Roches Nachfolger „Schoßgebete” hingegen wurde nun generalstabsmäßig zum Bestseller vorbereitet. Hartges, inzwischen Leiter des Münchner Piper Verlags, erhielt verständlicherweise erneut das Vertrauen von Roche. Übliche Vorabexemplare für die Presse gab es nicht: Dafür ein erschöpfend langes Interview mit der Autorin im „Spiegel”, gewissermaßen das ius primae noctis, die „Erstbesprechung”, in der „FAZ” und das Verlagsversprechen, Roche breche eines der letzten Tabus, das Thema Sex in der Ehe.
Letzteres ist schon allein deswegen Blödsinn, weil sich die gesamte Weltliteratur der letzten zwei Jahrhunderte genau aus der psychologischen und moralischen Zwangssituation des „Monogamiegefängnisses” (Roche) speist. Und allzu detailverliebte Sexszenen können literarisch schnell den Tabubruch der Ermüdung erzeugen.
Aber letztendlich ist Sex – bei aller Ausführlichkeit – nur das Randthema in „Schoßgebete”. Das Buch ist eine lange Selbsttherapie, wie Roche unumwunden zugibt, eine überaus offene und über weite Strecken bewegende Aufarbeitung einer schutzlosen Seele. Wer den erwachsenen Nachfolger der „Feuchtgebiete” erwartete, wird enttäuscht sein, im positiven Sinn.
Roche schlüpft für „Schoßgebete” in die Rolle der 33-jährigen Erzählerin Elizabeth Kiehl, aber das zentrale Thema des Buches ist autobiografisch: Auf dem Weg zu ihrer geplanten Hochzeit mit ihrem damaligen Freund im Sommer 2001 in London wurde das Auto ihrer Mutter in Belgien in einen fürchterlichen Unfall verwickelt. Drei Brüder Roches starben, ihre Mutter und die Freundin einer ihrer Brüder wurden schwer verletzt. Ein im Buch „Druck”-Zeitung genanntes Boulevardmedium kontaktiert sie schonungslos kurz nach dem Unfall und veröffentlicht das Foto des ausgebrannten Autowracks. Hieraus resultiert Roches tiefe Abneigung gegenüber dem Springer-Konzern, dem sie jedes Interview verweigert. Im Buch tobt die Protagonistin gedanklich ihre Rachegefühle gegen die Journalisten aus.
Angeblich hat Roches Therapeutin der Autorin von einer öffentlichung Aufarbeitung dieser persönlichen Katastrophe abgeraten, aber die gebürtige Britin wollte es schon immer möglichst krass und kontrovers: So verschreckte sie als kurze Gastmoderatorin neben Giovanni di Lorenzo das „3 nach 9”-Stammpublikum und bot Bundespräsident Christian Wulff im letzten Jahr Sex an, sollte er das Gesetz mit längeren AKW-Laufzeiten ablehnen.
Im Buch gilt der erste Gedanke nach Erhalt der Todesnachricht dem Brautkleid: „Ist es auch verbrannt?” Dann folgen die Schuldgefühle. Schließlich wollte die Mutter mit den Brüdern ursprünglich nach London fliegen, nur das aufwändige Kleid selbst schien dann für den Transport im Auto besser geeignet. Kiehl steigt in kein Fahrzeug mehr, das sie nicht selber fährt und zählt am Straßenrand alle toten Tere: „Sie sind wie meine Brüder: unschuldig, klein, natürlich.” Selbst jeder gute Tag endet mit dem schlechten Gewissen: „Die Wunde heilt nicht. Es schmerzt heute noch genauso wie an diesem ersten Tag.”
So ist Sex für die Protagonistin vor allem die Flucht vor den Dämonen im Kopf – aber keinesfalls der Grund, warum Roche ihr zweites und wesentlich reiferes Buch verfasst hat.
Charlotte Roche: „Schoßgebete” (Piper, 284 Seiten, 16.99 Euro)
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