Der "Sturm" in den Kammerspielen
Werner Herzog war nicht da. An den Kammerspielen hofft man aber, dass das zurückgezogen in Los Angeles lebende Urgestein des Neuen Deutschen Films eine der späteren Vorstellungen besuchen wird. Der 81-Jährige könnte dann auf sich selbst treffen als junger Autorenfilmer, noch im lockigen Haar und getrieben von einer übermächtigen Kreativität. Nicht nur äußerlich, sondern auch in Vokabular und Intonation kommt Bernardo Arias Porras dem Original verblüffend nahe, wenn auch ohne das Oberbayerische des gebürtigen Münchners.
Regisseur Jan-Christoph Gockel wäre nicht er, wäre ihm das Œuvre des sich in Grenzbereichen des Filmemachens bewegenden Kinomagiers für eine seiner Stückentwicklungen genug. Herzogs Buch "Das Dämmern der Welt" (2021) hat Gesellschaft bekommen von William Shakespeares Schauspiel "Der Sturm" (1611) und Immanuel Kants Abhandlung "Zum ewigen Frieden" (1795). Da wunderte sich auch ein Fachmann für verrückte Ideen wie Werner Herzog.
Das Dämmern der Welt
Er dankte zwar den Kammerspielen für das Vorhaben, sein "Dämmern der Welt" mit Shakespeares "Sturm" zu verknüpfen, räumte aber ein: "Wie das gehen soll, ist mir schleierhaft." Dennoch wolle er sich "nicht einem ganz neuen Ansatz verweigern". Diese E-Mail ist in die Spielfassung eingeflossen, die Gockel zusammen mit Claus Philipp schrieb wie auch aus weiteren Texten Herzogs sowie aus dem Roman, der das Buch zu einem nie gedrehten Film ist.

Dessen Held ist der japanische Soldat Hiroo Onoda, der das Ende des Zweiten Weltkriegs verpasst hatte und weitere 29 Jahre lang überzeugt davon war, eine kleine Insel im Pazifik gegen die USA und ihre Alliierten verteidigen zu müssen. Im isolierten Herrscher über ein einsames Eiland, der bis 1974 jeden Hinweis auf seine Gegenwart für propagandistische Fake News hielt, weil noch immer Bomber flogen und Kriegsschiffe kreuzten, sieht Gockel einen nahen Verwandten von Prospero.
Der einstige Herzog von Mailand wurde von seinem intriganten Bruder auf eine Insel verbannt und sinnt nach Rache. Die dort bis dahin herrschenden Geisterwesen unterwarf er mit magischer Kraft und sie wurden Diener des Adeligen aus Norditalien. Damit war schon im 17. Jahrhundert Kritik an europäischer Kolonialisierung formuliert, wie sie auch bei Gockel und Philipp erkennbar wird. Doch von Shakespeares Zaubermärchen blieben nur Trümmer übrig.
Aus Königstein oder Königsberg oder so
Denn es geht um den Krieg, und zwar totaler, als ein "totaler Krieg" jemals gemeint war. Prosperos Tochter ist eine der ausdrucksstarken Puppen von Michael Pietsch, entstellt durch eine Verletzung im Gesicht, als hätte sie eine explodierende Handgranate betrachtet. In einem Zwischenspiel erzählt Ariel (Katharina Bach), die zu ihrem Beruf als Luftgeist einen Nebenjob als Bardame in einem Etablissement namens "Zum ewigen Frieden" hat, von einem Immanuel "aus Königstein oder Königsberg oder so".
Am Tresen habe er gepoltert, der Frieden sei nicht der normale Zustand der Welt, sondern diene nur dazu, neue Kriege vorzubereiten. Es müsse das Ziel der Politik sein, den "Todestrieb" des Menschen zu kontrollieren und Krieg unmöglich zu machen. Dieser Alptraum vom unendlichen Krieg ist das Zentrum des Assoziationssturms, der auf der völlig aufgerissenen Bühne des Schauspielhauses tobt.

Das Patrouillenboot aus "Apocalypse Now"
Akustisch prägt das hart rockende Duo Maria Moling und Anton Berman die Inszenierung, visuell ist ein vollständig verrostetes Schiff die starke Chiffre im Bühnenbild von Julia Kurzweg. Wohl nicht zufällig weckt das Wrack Erinnerung an das Patrouillenboot in "Apocalypse Now", mit dem Gockel Coppolas Film ein erbittert desillusioniertes "Apocalypse Forever" entgegen zu schreien scheint.
Was Prosperos fiktive Insel in der frühen Neuzeit und Onodas real existierende Insel im vorigen Jahrhundert verbindet, ist der zuverlässig grandiose Thomas Schmauser in beiden Rollen. Mit seiner kristallklaren Transparenz ist er so etwas wie die rettende Insel im bewegten Ozean von Gockels Theater des Zuviels. Wie so oft betört der Kammerspiel-Hausregisseur mit sinnlichem Bühnenzauber und ernüchtert mit dramaturgischer Weitschweifigkeit. So mischten sich vereinzelte Buh-Rufe in den heftigen, aber kurzen Schlussapplaus eines erschöpften Premierenpublikums.
Kammerspiele, 20., 27. Dezember, 19 Uhr, 25. Dezember, 18 Uhr, Karten unter Telefon 23396600
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