Der neue Roman von Paul Auster
Stolze 1264 Seiten. So viel Paul Auster am Stück gab es noch nie. Der bald 70-jährige forderte seine Leser bisher eher mit überraschend kurzen Romanen wie „Timbuktu“ oder „Reisen im Skriptorium“ heraus. Sogar in seiner großartigen Autobiografie „Winterjournal“ (2013) beschränkte er sich auf weniger als 300 Seiten, schob im Jahr darauf einen zweiten Teil nach, den „Bericht aus dem Inneren“. Nein, als ausschweifender Erzähler ist Auster bisher nicht aufgefallen, zumindest formal nicht. Umso erstaunlicher, dass nun dieser dicke Brocken namens „4321“ den Namen des US-Schriftstellers trägt.
Die Länge ist jedoch notwendig. Und sie wirkt nur äußerlich erdrückend, nicht inhaltlich. Paul Auster erzählt das Leben eines Mannes namens Archie Ferguson - geboren 1947 in Newark, wie der Autor selbst. Er erzählt es in vier Variationen. Eine faszinierende Möglichkeit, die sich einer von Austers Archies schon als Junge vorstellt: „Was für ein interessanter Gedanke: sich vorzustellen, wie für ihn alles anders sein könnte, auch wenn er selbst immer derselbe bliebe. Derselbe Junge in einem anderen Haus mit einem anderen Baum“ Derselbe Junge mit anderen Eltern. Derselbe Junge mit denselben Eltern, die aber nicht dieselben Dinge täten wie jetzt.“
Herkunft, Kindheit, Jugend, Studium und Beruf
Dieses kindliche Gedankenspiel setzt Paul Auster souverän um. Er unterteilt sein Opus magnum in mehrere Lebensabschnitte von Ferguson: Herkunft, Kindheit, Jugend, Studium und Beruf, eine Zeitspanne, die von 1947 bis 1974 reicht. Innerhalb dieser Abschnitte schildert Auster jeweils vier Versionen – so raffiniert und elegant, dass Archies Erlebnisse nie redundant wirken, und man sich gelegentlich fragt, welchem der vier Leben man gerade folgt.
Denn viele Protagonisten tauchen in jeder Version auf, und alle Archies teilen ihre große Leidenschaft für Baseball, Literatur und Frauen – eine bekannte Selbstreferenz in Austers Gesamtwerk. Gleichzeitig entwickelt jedes Leben einen dramatischen individuellen Verlauf.
Auster begann diesen Roman mit 66 Jahren, genau in dem Alter, in dem sein Vater (beim Sex) an einer Herzattacke starb. „Als ich diese Zeitgrenze überschritten hatte, begann ich in einer wirklich gruseligen Welt zu leben“, erzählte Auster der britischen Zeitung „The Guardian“. „Ich habe mich jetzt daran gewöhnt, aber anfangs hatte ich immer diesen Gedanken an einen plötzlichen Tod im Kopf“. Vielleicht auch ein Grund, warum der Kettenraucher Auster während der Arbeit an „4321“ auf die E-Zigarette umstieg.
Tage des Zorns
Über Archies Erwachsenwerden transportiert Auster die gesellschaftliche und politische Entwicklung der USA in den fünfziger und sechziger Jahren. „Der Mann der Zukunft ist tot“ konstatiert Archie etwa geschockt nach dem Mord an John F. Kennedy. Auch Malcom X und Martin Luther King werden erschossen, Archie diskutiert über Vietnam, schließt sich den Studentenprotesten an, verfolgt die Tage des Zorns, den Marsch auf Washington.
Doch nicht jeder der vier Archies wird von den Ereignissen gleichermaßen berührt oder mitgerissen. Mancher tröstet sich mit Küssen und Sex: „Alles fühlte sich gut an, genau wie er es sich vorgestellt hatte, sodass einmal in seinem Leben das Wirkliche und das Vorgestellte identisch waren, vollkommen und wie noch nie zuvor ein und dasselbe, was diesen Moment, glaubte er, zum glücklichsten seines bisherigen Lebens machen dürfte.“
Schmerz, Verlust und Trauer
Indessen, kurze Zeit später ist das Glück vorbei. Auster erzählt mitreißend von Liebe und Hoffnung, von einer scheinbar strahlenden Zukunft, die sich vor den Fergusons ausbreitet. Gleichzeitig bleibt der Schriftsteller grausam realistisch, schickt seine jungen Männer vom Paradies in die Hölle, sie erleiden Autounfälle, werden von ihren Liebsten verlassen und verletzt, und der Tod ereilt jeden Archie auf eine andere Weise.
Ja, es ist auch ein Roman über Schmerz, Verlust und Trauer. „Kein Gefühl schlimmer als dieses. Keine Scham je furchtbarer.“, meint Archie Nummer Drei, nachdem er sich in Paris für Sex mit einem älteren Mann bezahlen ließ. Und Archie Nummer Eins notiert: „Ich falle tiefer als tief. Ich habe gerade das dreiundneunzigste Kellergeschoss erreicht, und der Fahrstuhl geht immer weiter runter.“ Schuld daran ist eine erloschene Liebe.
„4321“ ist der vermutlich erste vierfache Coming-of-Age-Roman der Literaturgeschichte. Ein geniales Gedankenspiel, in dem auch ein scharlachrotes Notizbuch vorkommt (eine Anspielung auf ein ähnlich lautendes früheres Buch) und zweifellos ein Höhepunkt in Paul Austers Schaffen. Ein bestimmter Satz Archies klingt fast so als habe er selbst dieses beeindruckende Werk gelesen: „Alles war möglich, und nur weil etwas auf eine bestimmte Weise geschah, hieß das noch lange nicht, dass es nicht auch auf eine andere Weise geschehen konnte.“
Trump bringt ihn zum Nervenzusammenbruch
Der Schriftsteller Auster hat erleben müssen, dass auch das Unmögliche geschieht: Die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten, was den Autor an den Rande eines Nervenzusammenbruchs brachte. „Ich habe mir seit seinem Sieg die ganze Zeit Gedanken gemacht, wie ich künftig leben soll“, sagte Auster dem „Guardian“. Und er hat eine Entscheidung getroffen. 2018 will er Präsident des amerikanischen PEN-Clubs werden, ein Amt, das ihm schon lange angetragen wurde, er bislang aber ablehnte. „Ich werde so oft meine Meinung sagen, wie es möglich ist. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich anders weiterleben soll.“
Paul Auster: „4321“ (Rowohlt, 1259 Seiten, 29,95 Euro)
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