Der neue "Pirelli"-Bildband ist Erotik pur

Der Taschen-Verlag lässt in einem prächtigen Bildband 50 Jahre Pirelli-Kalender Revue passieren. Auf diesen Seiten kommt die Fantasie mit den schönsten Frauen der Welt ins Rollen...
von  Michael Stadler

München - Sicherlich: Die Erotik eines Reifens hält sich in Grenzen. Was aus Kautschuk besteht, versehen mit Chemikalien, Weichmachern, Ölen und Harzen, gewinnt seinen Appeal nicht aus dem Look, sondern aus seiner Funktion und dem Versprechen, das im Fahren liegt: die Freiheit der Straße, der Rausch der Geschwindigkeit, knapp vorm orgiastischen Abheben.

Der Bogen vom Statussymbol Auto, das ohne Reifen nicht möglich ist, wurde dabei schon immer zu schönen Frauen gespannt, die sich bei Messen vor Autos drapieren, um zum Hinschauen und Kaufen zu animieren.

Dass beim Mailänder Reifen-, ehemals auch Kabelhersteller Pirelli im Lauf der 1960er die Idee aufkam, die eigenen Produkte mit einem Kalender zu bewerben, ist also kein Wunder. Damals waren Firmen-Kalender nichts Neues, aber Pirelli wollte es smarter machen: Exklusiv sollte der Kalender sein, nur für Freunde, VIPs, Stammkunden, die für ihre Treue mit dem jahrumspannenden Anblick herausragender Schönheiten belohnt werden sollten.

Ihr seid besonders, sollte der Pirelli-Kalender aussagen und das Lebensgefühl der gerade in London heftig rotierenden Swinging Sixties einfangen.

Wobei die Kalender am Anfang und auch später gerne an weiße Strände entführten, wie man nun anhand des umfassenden, reizüberflutenden Bildbands „Pirelli. Der Kalender. 50 Jahre und mehr“ des Taschen-Verlags entdecken darf.

Da steht ein Model an der Schnittstelle von Sand und Meer im weißen Badeanzug, ein anderes hält ein rotes Handtuch vor den nackten Körper – züchtig alles, putzig aus heutiger Sicht, dabei aufgenommen von Robert Freeman, der in jener Zeit auch die Beatles vor seiner Linse hatte und hier unter anderem seine eigene Frau am Strand von Mallorca in Szene setzte.

Der erste Kalender war dabei eigentlich der zweite: Bereits im Jahr zuvor fotografierte Terence Donovan im Auftrag der Italiener schöne Frauen aus jenen zwölf Ecken der Welt ab, in die Pirelli seine Reifen exportierte. Die Produkte selbst waren da noch im Bild. Nackte Haut kam nicht ins Spiel, was vielleicht erklärt, weshalb dieser Versuch doch nicht „for free“ verschickt wurde, sondern erst mal in der Schublade landete (um später von den Fans heiß begehrt zu werden). Product Placement im eigenen Kalender, so muss Pirelli bemerkt haben, wirkt doch etwas billig. Eine schöne Frau jedoch, perfekt inszeniert, bringt allein schon die Fantasie ins Rollen. Bald galten die Pirelli-Kalender, deren Ruf sich trotz der niedrigen Auflage weit verbreitete, als Glanzstücke der erotischen Fotografie, und man kann beim Durchblättern des 576 Seiten starken Bildbands schön nachvollziehen, wie sich der Begriff von stilvoller Erotik und savoir vivre im Lauf der Zeit gewandelt hat.

In den Aufnahmen des englischen Fotografen Harri Peccinotti für den 1969-Kalender sieht man ein Mädchen noch am Eis schlotzen, dazu Strand-, Surfer-, und Bikini-Impressionen, fotografiert am kalifornischen Küstenstreifen Big Sur.

In den Kalendern Anfang der Siebziger entdeckt man schon mal die eine oder andere nackte Brust; auch in den Fotos von Sarah Moon, die 1972 als erste Fotografin den Kalender bebildern durfte und bei der Belle-Époque-Inszenierung puppenhaft geschminkter Frauen extensiv zum Weichzeichner griff. Zwischen 1975 und 1983 machte der Kalender Pause, weil die Energiekrise Pirelli ein wenig in die Knie zwang. 1984 ging es weiter. Und der Zeitsprung fällt ins Auge: Der deutsche Fotograf Uwe Ommer lichtete seine Modelle splitternackt auf den Bahamas ab – auf ihren blanken Popos Reifenspuren, als ob der Auftraggeber zuvor ganz sanft eine Runde über sie drübergefahren wäre.

So albern-verspielt konnten nur die Achtziger sein. Bert Stern, berühmt für seine Fotoserien mit Marilyn Monroe, tauchte für den Kalender 1986 gar in die Welt der Gemälde ein und fügte seine Modelle nackt, zum Teil körperbemalt in Atelier-Szenarien ein.

Mag die Erinnerung an die Damen mittlerweile verblasst sein, so sieht man in den Aufnahmen der Neunziger doch noch ein paar bekannte Gesichter: Cindy Crawford zeigt sich da 1994 freizügig am Strand von Paradise Island, auf den Bahamas, aufgenommen von Herb Ritts, der auch Karen Alexander, Helena Christensen und die gerade mal 20-jährige Kate Moss vor der Linse hatte. Moss taucht öfters auf, sogar im Kalender von 2012, aufgenommen von Mario Sorrenti, der all seine Models in Korsika inszenierte, wobei das Auge mittlerweile über den gesamten, weitgehend bis ganz enthaarten Körper schweifen darf. Auf dem Weg zur full frontal nudity – was in Zeiten von Internetpornografie längst kein Skandal mehr ist – fanden in Pirelli-Kalendern immer mal wieder kleine Revolutionen statt, von den Auftraggebern natürlich durchaus erwünscht, weshalb sie ihren berühmten Fotografen auch, so heißt es zumindest, freie Hand lassen.

Bruce Weber zum Beispiel dachte auch ans weibliche Auge, als er auf die Rückseiten des Kalenders von 1998 Fotos von berühmten Männer platzierte, von Robert Mitchum bis Bono von U2. Die Herren der Schöpfung mussten sich nicht ausziehen, wirken jedoch lässig, während die Frauen auf den Vorderseiten – Milla Jovovich beim Spaghetti-Kochen – doch mehr Haut zeigen. Da machte es Annie Leibovitz dem voyeuristischen Betrachter etwas schwerer: Ihre Fotos für den Kalender 2000 zeigen Frauenkörper im Halbdunkel, die Gesichter kaum sichtbar – eher eine anatomische Studie. Und Steve McCurry, auch als Kriegsreporter unterwegs, verzichtete 2013 ganz auf Nacktheit. Er nutzte den Auftrag lieber, um die brasilianische Metropole Rio zu inszenieren: die schönen Frauen im Vordergrund als Magnet, um die Großstadt hinten noch attraktiver erscheinen zu lassen.

Sexy können nicht nur Menschen sein – auch das zeigt der Pirelli-Kalender. Wichtig waren immer die großen Namen, auch hinter der Kamera: Richard Avedon, Peter Lindbergh, Herb Ritts oder Karl Lagerfeld drückten für Pirelli auf den Auslöser. Die Exklusivität war dabei schon immer relativ und letztlich eine gelungene Werbestrategie: Die meisten Fotos fanden weite Verbreitung. Der Bildband gibt nun jedem Normalsterblichen die Möglichkeit, 50 Jahre Pirelli-Kalender Revue passieren lassen und bei einzelnen Fotos zu verweilen. Zum Beispiel bei jenem, auf dem Top-Model Rosie Huntington-Whiteley nackt ein Faultier umarmt. Das Tier wirkt glücklich, und der Betrachter denkt sich: Ach, faul bin ich doch auch.

„Pirelli. Der Kalender. 50 Jahre und mehr.“ Mit einer Einleitung von Philippe Daverio. Taschen-Verlag. Hardcover, 576 Seiten, 49,99 Euro. Auch erhältlich als großformatige Collector’s Edition mit 2 Ausklapptafeln (limitiert auf 1000 Exemplare)

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