Der letzte Träumer
Oscar Niemeyer ist der Meister der gebauten Kurve, Vater der brasilianischen Moderne und Kommunist. Heute wird der Architekt 101 Jahre alt
Oscar Niemeyer ist auch im biblischen Alter eine beeindruckende Erscheinung. Im hellbeigen Anzug steht er am Reißbrett in seinem Büro in Rio de Janeiro, und zeichnet das, was ihn berühmt machte: schwungvolle Kurven. Heute feiert er seinen 101. Geburtstag. Der weit über die Grenzen seiner Heimat Brasiliens bekannte Stararchitekt mit deutschen Vorfahren, bekennende „George W. Bush-Hasser“ und Fidel-Castro-Freund hat noch viel vor.
Anfragen aus der aller Welt gehen bei ihm ein. „Arbeiten hält jung, und Älterwerden ist Scheiße“, verriet der Vater der brasilianischen Architektur-Moderne einmal auf seine typisch drastische Art in einem früheren Interview sein Geheimnis.
Kommunist und Freund von Fidel Castro
Den bekennenden Kommunisten verbindet mit dem in diesem Frühjahr abgetretenen kubanischen Revolutionsführer Fidel Castro eine lange Freundschaft. Castro sagte einmal, dass er und Niemeyer wohl die einzigen noch verbliebenen Kommunisten auf diesem Planeten seien.
Für den „Centenario“ (Hundertjährigen) ist es heute nicht mehr die Architektur, die in Brasilien im Vordergrund stehen sollte. „Unsere größte Aufmerksamkeit muss den jungen Menschen gelten, um ihnen zu zeigen, worum es im Leben wirklich geht. Sie müssen erkennen, wie klein wir (Menschen) eigentlich sind“, sagte er im vorigen Monat dem US-Sender „CNN“.
Klein kommt sich auch der Betrachter der niemeyerschen Werke in aller Welt vor. Ob es die Gebäude in der von ihm Ende der 50er Jahre kreierten Reißbrett-Hauptstadt Brasília sind oder das von ihm geplante Hauptgebäude der Vereinten Nationen in New York – es stellt sich immer Staunen ein, gepaart mit Ehrfurcht.
"Kunstwerke müssen überraschen"
Stets wird die Konfrontation mit den in Beton gegossenen Gedanken Niemeyers eine Begegnung mit völlig ungewohnten, unerwarteten Formen. „Gute Architektur, die, die ich bevorzuge, ist immer Architektur, die sich unterscheidet, die sich nicht wiederholt, und die die Rolle eines Kunstwerkes annimmt. Für mich müssen Kunstwerke überraschen“, sagte Niemeyer im November.
Der Mann, der die gerade Linie verabscheut und nach Worten des französischen Star-Architekten Le Corbusier die Berge Rios in den Augen hat, wurde als eines von sechs Kindern eines deutschstämmigen Kaufmanns in Rio geboren. Nach dem Architektur-Studium begann durch die Zusammenarbeit mit seinen Vorbildern Lucio Costa und Le Corbusier der Aufstieg.
Nachdem er 1943 mit dem alten Gesundheitsministerium in Rio internationales Renommee erlangte, entwarf er 1947 das UN-Gebäude in New York. Dann folgte Ende 50er die Hauptstadt Brasília, die er gemeinsam mit Lucio Costa schuf. 1987 wurde sie zum Weltkulturerbe erklärt. In Deutschland baute er ein Appartementhaus für das Hansaviertel in Berlin (1957). Während der Militärdiktatur (1964-1985) wurde Niemeyer verfolgt und mit einem Arbeitsverbot belegt.
Aber Brasilien, immerhin das fünftgrößte Land der Erde, war ohnehin immer zu klein für Niemeyers Schaffensdrang. Er entwarf und baute in Italien, Spanien, Frankreich, Israel und vielen Ländern rund um die Erde. Stillstand kennt der Altmeister in keinerlei Hinsicht.
Nachdem er nach 76 Ehejahren mit Annita 2004 Witwer wurde, heiratete er 2006 seine langjährige Sekretärin. Und selbst eine Jahrhundert-Zeitspanne scheint für einen Menschen vom Schlage Oscar Niemeyers zu wenig: „Ich habe zu wenig in meinem Leben gemacht. Das Leben ist zu kurz, nur ein Hauch.“
Helmut Reuter