Der Kampf gegen den Verfall

Der Münchner Autor Thomas Willmann reist mit seinem Roman "Der eiserne Marquis" ins 18. Jahrhundert
Volker Isfort |
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Der Münchner Autor Thomas Willmann.
Foto: Frese München Der Münchner Autor Thomas Willmann.

Gemeinhin gilt das zweite Buch für jeden Autor als das schwierigste, für den Münchner Schriftsteller Thomas Willmann kamen noch erschwerende Umstände hinzu. Sein Debüt "Das finstere Tal" war ein überraschender, großer und verdienter Erfolg mit rund 150 000 verkauften Exemplaren und einer gelungenen Kinoadaption. Aber der Alpenwestern erschien als Buch vor genau zwölf Jahren.

Von einer "unerwartet langen Reise" spricht Willmann im Nachwort seines nun endlich vorliegenden zweiten Romans. Eine herrliche Untertreibung, die man aber versteht, wenn man die 920-Seiten-Lektüre seines zweiten Romans "Der eiserne Marquis" abgeschlossen hat. Der 1969 in München geborene Autor hat sich für sein Mammutprojekt ins 18. Jahrhundert begeben und nicht nur akribisch die Wissenschaftsgeschichte recherchiert, sondern auch die Sprache adaptiert, die er in zeitgenössischen Schriften fand. Und eine Geschichte über Liebe, Wahn und Obsession schreibt man nicht mit halber Leidenschaft.

Der Protagonist und Ich-Erzähler, der sich dem Leser im Prolog vorstellt, sitzt im Irrenhaus und tischt den Ratten seine Lebensgeschichte auf, die ihm auf der Seele brennt. Vielleicht meint er aber auch uns Leseratten, die ihm die folgenden 900 Seiten zuhören sollen. Vorgestellt hat er sich als Mörder, aber es wird Hunderte Seiten dauern, bis man die Details erfährt.

Das erste Opfer dagegen folgt gleich zu Beginn. Es ist die Mutter, die seine Geburt nicht überlebt, was das Verhältnis zum Vater im namenlosen Provinznest von der ersten Lebensstunde an eintrübt.

Das Kind entwickelt eine besondere Begeisterung für Uhren und mechanische Zusammenhänge und darf - wie im klassischen Bildungsroman - früh die ungeliebte Heimat verlassen und in Wien beim Uhrmacher Servasius Weisz in die Lehre gehen.

Beim Ausliefern einer reparierten Uhr platzt das Schicksal in sein Leben, als er zufällig die Grafentochter Amalia erblickt, "ein Wesen, von einer Makellosigkeit, wie sie auf Erden unmöglich mir dünkte". Standesmäßig unmöglich ist auch die Liebe zwischen Geselle und Grafentochter. Die nächsten 200 Seiten werden Blicke, geheime Briefe und verbotene Berührungen ausgetauscht, bis die Raserei in die Katastrophe führt und der Ich-Erzähler Wien und eine Zeit lang der ganzen Menschheit den Rücken kehrt.

Hinter der Grenze im preußischen Heer beginnt das zweite Leben des Ich-Erzählers, der sich nun Jakob Kainer nennt und wie Thackerays "Barry Lyndon" im preußischen Heer inmitten des Siebenjährigen Krieges eine neue Bestimmung findet. Willmanns Sprache passt hier ausgezeichnet, um Schrecken und Sinnlosigkeit des Krieges zu verdeutlichen, schließlich triff es auch Jakob: "Dann riss es hinter mir ein Loch ins Gewebe der Welt und etwas fuhr mir mit tollwütigem Biss in den rechten Fuß. Eine gewaltige Faust stieß mich in den Rücken. (...) Und noch bevor ich auf den Boden schlug, ward um mich und ward in mir alles schwarz."

Im Feldlazarett (auf Seite 440) macht Jakob nun endlich die Bekanntschaft mit dem titelgebenden Marquis, der den begabten Uhrmacher mit nach Paris nimmt. Denn der Marquis braucht nicht nur eine neue Prothese, seine Krankheit ist eine fortschreitende, die immer weitere Teile des Arms erobert.

Verzweifelt stürzen sich die beiden in grausamst detailliert beschriebene Tierversuche, um zu ergründen, inwieweit Mechanik und Leben verbunden werden können. Und ob man mit Hilfe künstlicher Blitze und anderer Experimente nicht gar den Lebensfunken selbst starten könne.

Während Jakob beim Maskenball eine Frau erblickt, deren Augen ihn an Amalia erinnern, und die Liebe neu entdeckt, reicht dem Marquis schon bald die düstere Wissenschaft an Tieren und Leichen nicht mehr aus. Immer mehr Bettler verschwinden aus den Gassen von Paris. Auf der Jagd nach dem Ursprung des Lebens, im Kampf gegen die Vergänglichkeit kennt der Marquis bald keinerlei moralischen Grenzen mehr.

Der "schreiberische Sonderweg" (wie Willmann in der Danksagung sein Projekt charakterisiert) ist ein weiter und bisweilen auch erschöpfend. Aber wenn man einmal eingetaucht ist in diese Welt zwischen "Parfum" und "Frankenstein", ist es unmöglich, sich dem dunklen Zauber von Willmanns Geschichte zu entziehen.

Thomas Willmann stellt "Der eiserne Marquis" (Liebeskind, 930 Seiten, 36 Euro) am 21. September, 19.30 Uhr in der Buchhandlung Lehmkuhl vor (Leopoldstr. 45, 10 Euro, % 38 01 500)

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