Der größte Käsedieb
In „Der Pate der Paten“ beschreibt die britische Journalistin Clare Longrigg den Aufstieg und Fall von Bernardo Provenzano, Boss der Cosa Nostra
Der Mann, den die Polizei am frühen Morgen des 11. April 2006 aus seinem Unterschlupf auf einer Schaffarm in der Nähe Corleones zog, hatte nichts Dämonisches an sich. „Ihr wisst nicht, was ihr tut“, flüsterte er, aber Einsatzleiter Renato Cortese und seine 18 Mann, die die Farm schon seit Tagen überwachten, wussten in diesem Augenblick genau, wen sie endlich vor sich hatten: Bernardo Provenzano, den Kopf der sizilianischen Cosa Nostra, dessen aktuellste Polizeiaufnahme aus dem Jahr 1958 stammte – der damals 25-Jährige war wegen Käsediebstahls festgenommen worden.
Sie sei immer vom „Menschlichen hinter der Mafia“ fasziniert, schreibt die britische Journalistin Clare Longrigg, und begegnet in ihrem neuen Buch „Der Pate der Paten“ dem 1933 im sizilianischen Corleone geborenen Spross einer armen Kleinbauernfamilie mit einer gewissen Sympathie. Schon mit sieben Jahren verließ Bernardo die Schule, um seinem Vater bei der Feldarbeit zu helfen. Dennoch wurde er der führende Stratege der Cosa Nostra und „rettete“ die Organisation vor ihrem Auseinanderbrechen.
Im Gefängnis studierte er die Bibel
Zwei extreme Facetten charakterisieren den Mann, nach dem die Behörden 43 Jahre lang fahndeten, Brutalität und Bescheidenheit. Seinen Spitznamen „Traktor“ verdiente sich Provenzano in seinen Jahren des Aufstiegs im Clan, weil er so unnachgiebig und blutig seine Ziele verfolgte. Rund 50 Morde gehen auf sein Konto. Jahrzehnte später, als er nach der Verhaftung von Totò Riina (1993) fast allein die Geschicke der Cosa Nostra lenkte, ging er heißblütigeren Clanbossen mit seinem andauernden Zögern und Aufschieben von Entscheidungen auf die Nerven. Doch Provenzano, der nicht erst im Gefängnis eifrig die Bibel studierte, hatte erkannt, dass es für das Weiterleben der Organisation nur eine einzige Möglichkeit gab: Deeskalation. Schon der Mafiakrieg, in dem sich die Corleonesi in den 80er Jahren gegen die Familien aus Palermo und anderen Regionen durchsetzten und von den verlachten Bauern zur Führungsmacht innerhalb der Cosa Nostra aufstiegen, hatte weit über 1000 Opfer gefordert und viel Staub aufgewirbelt. Mit dem Krieg gegen den Staat jedoch, mit den Morden an Giovanni Falcone und Paolo Borsellino und Anschlägen in Florenz, Mailand und und Rom hatte die Mafia sich vollends außerhalb der Gesellschaft positioniert. Kaum installierte die Regierung eine Zeugenschutzprogramm, packten mehr als 400 Mafia-Mitglieder aus. Viele von ihnen hatten nach internen Säuberungswellen weit mehr Angst vor den eigenen Leuten als vor der Polizei.
Lange beschützt von der Politik?
Provenzano schaffte es, auf den neuen „friedlichen“ Kurs zu schwenken. Selbst blieb er im Hintergrund, nahm selten an Treffen teil und regierte mit seinen weiterverteilten Zettelchen, die er penibel (und voller Fehler) auf der Schreibmaschine tippte, bis ihm ein abgehörtes Gespräch seiner Brüder zum Verhängnis wurde. Das „schlimme Leben, das wir führen“, wie Provenzano einmal schrieb, hatte ihn von seiner Lebensgefährtin und den zwei Söhnen faktisch abgeschnitten. Seit 1992 lebten diese in Corleone, permanent von der Polizei beschattet, Sohn Angelo eröffnete dort gar einen Waschsalon. Ein Treffen mit dem Vater aber war nahezu unmöglich.
Ob wirklich die Politik Provenzano so lange vor einem Zugriff schützte, kann auch Clare Longrigg nicht enthüllen. Er selbst schweigt und liest im Knast die Bibel. So reicht Longriggs Buch inhaltlich wenig über die Werke ihrer Kollegen (und besseren Stilisten) John Dickie und John Follain hinaus.
Volker Isfort
Clare Longrigg: „Der Pate der Paten“ (Herbig, 380 Seiten, 22,95 Euro)